Eine Rezension von Licita Geppert

Fremdes Herz am rechten Fleck

Claire Sylvia/William Novak: Herzensfremd

Wie ein Spenderherz mein Selbst veränderte.

Aus dem Amerikanischen von Almuth Dittmar-Kolb.

Hoffmann und Campe, Hamburg 1998, 287 S.

 

Die Amerikanerin Claire Sylvia ist in jeder Hinsicht eine erstaunliche Person, und sie hat ein erstaunliches Buch geschrieben. Es ist der Erfahrungsbericht einer Frau, die lernen mußte, nicht nur mit fremdem Herz und fremder Lunge zu leben, sondern auch mit fremder Seele. Was hier so lapidar dahingesagt und gleichzeitig so unglaublich klingt, ist eine Realität, mit der sich viele Transplantierte, d. h. Empfänger von Spenderorganen, auseinandersetzen müssen.

Geboren im Jahre 1940, verlebte Claire Sylvia während des Kriegseinsatzes ihres Vaters eine glückliche, behütete Zeit im jüdischen Haushalt ihrer Großeltern. Hier wurde sie mit dem Deuten von Träumen nach einer feststehenden Symbolik vertraut. Dem Talmud zufolge ist ein ungedeuteter Traum wie ein ungelesener Brief. In späteren Jahren sollte sie über Träume und andere Wahrnehmungen Botschaften über ihre Krankheit und den Spender ihres Herzens erfahren. Im Hause der Großeltern hatte sie das Leben in einer großen, herzlichen Familie kennengelernt, die ihr trotz der bescheidenen Verhältnisse Geborgenheit vermittelte. Mit der Rückkehr des Vaters und der Übersiedlung in eine eigene Wohnung änderte sich dies schlagartig. Claire war fünf Jahre alt, als sie aus dem Schoß dieser Familie herausgerissen wurde, um in der durch die neurotische Mutter geprägten kalten Atmosphäre ihres Elternhauses weiterleben zu müssen. Vielleicht nahm ihr dies damals schon buchstäblich die Luft zum Atmen, denn man stellte frühzeitig krankhafte Herzgeräusche bei ihr fest. Das Tanzen, zunächst klassisches Ballett, später Ausdruckstanz, war - ihren Herzproblemen zum Trotz - der einzige Ausweg aus dieser bedrückenden Situation; es wurde für sie lebensbestimmend, Beruf und Berufung zugleich. Das Tanzen lehrte sie, Körpergefühl zu entwickeln, sensibel zu werden für körperliche Prozesse und Veränderungen.

Ungefähr 1985, bei der sonntäglichen Zeitungslektüre, erhielt Claire Sylvia einen unerwarteten Eindruck von der Schwere der bei ihr anderthalb Jahre zuvor diagnostizierten Krankheit: primäre pulmonale Hypertonie. Diese hatte sich zunächst durch zunehmenden Luftmangel bemerkbar gemacht, vom Arzt war ihr jedoch der unausweichlich tödliche Ausgang dieser Krankheit verschwiegen worden. Erst der Bericht über ein Buch einer Leidensgefährtin und deren Transplantationserfahrungen rüttelte sie auf. Nun folgten Monate und Jahre der schleichenden Verschlechterung, die Claire Sylvia nutzte, sich mit ihrer Krankheit und den Behandlungsmöglichkeiten vertraut zu machen. Im Vorwort rechnet der Psychologe Dr. med. Bernie Siegel sie zu den 15 bis 20 Prozent „außergewöhnlichen Patienten“: „Sie lernen von anderen, doch sie treffen ihre eigenen Entscheidungen.“ Nachdem für Claire Sylvia nur noch die Transplantation als letzter Ausweg geblieben war, mußte sie sich in eine lange Warteliste einreihen. „Ich hatte die Aufnahme in einem Verein beantragt, dem ich eigentlich gar nicht angehören wollte“, beschreibt sie ihre zwiespältigen Gefühle. Mindestens ein Jahr Wartezeit würde sie überstehen müssen, eine Zeitspanne, die viele Wartende nicht überleben. Doch Claire Sylvia verdankt ihrem eigenen Engagement, der Hilfe von Freunden und einer gehörigen Portion Glück ihre Rettung. Völlig überraschend sind 1988, einen Tag nach ihrer Anmeldung in einer zweiten, neuen Klinik, Herz und Lunge eines achtzehnjährigen Motorradfahrers für sie dort bereit. Die Transplantation, deren dramatische Abfolge ausführlich beschrieben wird, gelingt. Bereits drei Tage später kann sich die Presse davon überzeugen. Ihre alte Lunge hätte Claire Sylvia keinen weiteren Monat mehr leben lassen.

Nun aber beginnen die eigentlichen, unerwarteten Probleme. Drehten sich bis zur Transplantation sämtliche Gedanken nur um das nackte Überleben, um die Luft zum Atmen und die Kraft zum Leben, so treten jetzt neben den körperlichen Folgen eines so schwerwiegenden Eingriffs zunehmend psychische Schwierigkeiten auf. Die ausgezeichneten Kardiologen ihres Krankenhauses sind darauf ebensowenig vorbereitet wie das übrige Klinikpersonal. Sie empfehlen lapidar, einfach „ganz normal“ zu leben. „Fast über Nacht war ich aus einem Zustand des Siechtums zu voller Funktionsfähigkeit zurückgekehrt. Allein die physischen Veränderungen waren so gewaltig und abrupt, daß mein übriges Ich - mein Verstand, meine Gefühle, meine Seele - noch nicht den Anschluß gefunden hatte.“ Sie mußte nicht nur eine postoperative Depression oder die Auseinandersetzung mit fremder Materie im eigenen Körper bewältigen, sondern eine schwere Identitätskrise, hervorgerufen durch die tiefgreifenden Veränderungen der Persönlichkeit und des Charakters, durch ein zweites Selbst gewissermaßen. Wird dessen Vorhandensein von der Schulmedizin auch hartnäckig geleugnet, so ist es doch eine schwerwiegende Erfahrung, mit der sich Transplantierte häufig auseinandersetzen müssen. Bei Claire Sylvia begann es mit dem für sie abnormen Wunsch nach einem Bier kurz nach der Operation. Plötzlich entwickelte sie Heißhunger auf verschiedene Gerichte und bestimmte Vorlieben, die ihr früher fremd gewesen waren. Auch ihr Charakter veränderte sich. Sie wurde von rastloser Aktivität erfüllt und stürzte sich mit schier unerschöpflicher Energie in teilweise pubertär anmutende Unternehmungen. Ihr bevorzugter Männertyp wandelte sich, ebenso ihr Herangehen an bestimmte Probleme. Um mit sich und diesen Veränderungen klarzukommen, gründete Claire Sylvia bereits kurz nach der Operation eine Selbsthilfegruppe, aus der später ein enger Kreis von Transplantierten hervorging, die sich gemeinsam mit einem Psychologen an die Aufarbeitung ihrer Doppelexistenz(en) machten, unter anderem auf dem Wege der Traumdeutung. Claire Syvia, von klein auf daran gewöhnt, die Signale ihres Körpers und ihrer Seele zu beachten, hatte den Namen ihres Spenders geträumt. Sie hatte Tim im Traum gesehen und mit einem Kuß gewissermaßen in sich aufgesogen. Von diesem Moment konnte sie besser mit den fremden Organen in ihrem Körper umgehen. Andere Transplantierte berichten ähnliches.

Nach vielen Umwegen gelang es ihr, mit den Angehörigen des jungen Tim Kontakt aufzunehmen. Es wurde eine bewegende Begegnung mit einer Familie, die genau dem Bild entsprach, das für sie der Prototyp einer glücklichen Gemeinschaft war. Für beide Seiten gestaltete sich die Annäherung schmerzlich und kompliziert, doch auch sehr herzlich im wahrsten Sinne des Wortes. Claire Sylvia erfuhr auf diesem Wege viel über Tim und erhielt die Bestätigung für ihre Vermutungen: Die Veränderungen, die sie an sich selbst erlebte, entsprachen dem Persönlichkeitsprofil ihres Spenders bis hin zu geschmacklichen Vorlieben. Diese unglaubliche Erkenntnis war für sie von großer Bedeutung. Hatte sie doch seit der Transplantation stets mit dem Gefühl gelebt, das junge Herz fühle sich in ihrem wesentlich älteren Körper fremd und eingesperrt. Es brauchte lange Zeit, bevor sie ihr Herz wieder beherrschte und nicht umgekehrt. Heute ist sie derart eins geworden mit ihrem neuen Körper und ihrem veränderten Selbst, daß sie die Transplantation mitunter völlig vergessen kann.

Um die erstaunlichen Vorgänge in ihrem Innern auch Zweiflern verständlich zu machen, ist der letzte Abschnitt der „Suche nach Erklärungen“ gewidmet. Nicht nur die Esoterik, auch die Wissenschaft beschäftigt sich heute mit diesen Phänomenen und bietet interessante Ansätze für ein weitergehendes Verständnis. Claire Sylvias Buch will allen Leidensgefährten Mut machen und bei allen nicht Betroffenen um Verständnis werben. William Novak, ihr Koautor, hat ihr geholfen, ihre wahre Geschichte zu einem spannenden Roman des Lebens werden zu lassen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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