Eine Rezension von Ulrike Henning
Die Lebensreise eines großen Mediziners
Gilbert Sinoué: Die Straße nach Isfahan
Historischer Roman.
Aus dem Französischen von Stefan Linster.
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1996, 768 S.
Es ist keine Forschungsreise, die der berühmte Arzt Abu Ali ibn Sina nach Isfahan unternimmt. Es ist vielmehr seine Lebensreise, die den in Europa besser als Avicenna bekannten Mediziner und Philosophen über viele Stationen, durch viele Prüfungen zum Ziel führt. Wir lernen im vorliegenden Roman einen unermüdlich strebsamen und zugleich begnadeten Wissenschaftler kennen, der die Genüsse des Lebens wie des Denkens und Arbeitens schätzt und sucht, oftmals im Widerspruch zu Vorschriften des schiitischen Islam, dem er sich zugehörig fühlt.
Mag es an der Unübersetzbarkeit arabischer oder persischer Redundanz liegen oder möglicherweise auch die Übertragung aus dem Französischen ihre Schwächen aufweisen, der Einstieg in die Handlung fällt zunächst etwas schwer. Läßt sich der Leser durch die leicht behäbige Sprache des Romans nicht abschrecken, kann er sich bald in die vielfältige, verwirrende Welt der Machtkämpfe im Mittleren Osten des frühen 11. Jahrhunderts versetzen. Die Mischung der Völker und Glaubensrichtungen vermag der in Ägypten geborene Autor Gilbert Sinoué glaubwürdig und lebendig darzustellen, sowohl in kleineren alltäglichen Konflikten, in denen der Held des Buches bestehen muß, als auch im Zusammenleben und befruchtender Kooperation beispielsweise der Wissenschaftler. Nicht selten führten diese Widersprüche im historischen Rahmen zum Wechsel von Dynastien und Herrschern, zu blutigen Schlachten und Vernichtungsfeldzügen. Auch hier ist ibn Sina, der Sohn Sinas, ein Zeitzeuge, dem es nicht immer gelingt, dem Unheil auszuweichen. Obwohl von Jugend an mit überragenden Fähigkeiten begabt, die seinen wissenschaftlichen Ruhm in der gesamten Region begründen, verliert er seinen Bruder und die geliebte Gattin, verliert er mehrere Male auch seine Arbeitsgrundlagen und die bis dahin jeweils verfaßten Schriften.
Gilbert Sinoué wählt zur Vermittlung des Lebensweges des großen Arztes die Figur eines seiner Schüler, dem von Ali ibn Sina in jungen Jahren das Leben gerettet wurde und der ihn seitdem unter anderem als Schreiber begleitet. Auch wenn diese Konstruktion nicht für den ganzen Roman konsequent durchgehalten wird, erlaubt sie menschliche Nähe auch in den Stunden der Ausschweifungen und des Verlustes. Letztere werden paradoxerweise noch ergreifender dargestellt durch die auch jetzt beibehaltene, von der Medizin geforderte Sachlichkeit. Zum historischen Panorama gehören aber auch Zitate aus zeitgenössischer Lyrik, die zugleich von tiefen Gefühlen der Handelnden zeugen.
Natürlich bietet die Lebensgeschichte ibn Sinas auch eine gehörige Portion Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Im Laufe der Handlung werden vom Islam aufgeworfene Streitfragen zur Medizin erörtert, in verschiedenen Fällen Krankengeschichte und Therapie beispielhaft dargestellt, in einer klaren Sprache, die auch vor Unappetitlichem nicht zurückschreckt - jedoch immer auf einem Niveau, das auch von medizinischen Laien nachzuvollziehen ist. Mit diesen Beschreibungen, manchmal ergänzt durch knappe Fußnoten aus heutiger Sicht, wächst der Respekt vor den Leistungen ibn Sinas. Der Medicus baute sein Wissen auf den wissenschaftlichen Traditionen der Antike auf, nutzte die Erfahrungen der arabischpersischen Medizin und behauptet sich menschlich wie ethisch als Arzt in einem Zeitalter, da Aberglauben und religiöse Vorschriften noch das Denken breiter Schichten bestimmten. Dabei muß der gepriesene Heiler auch Niederlagen hinnehmen, seine umkämpften Patienten dem Tod überlassen. Am spannendsten wird der Roman immer dann, wenn er das Ringen mit einer Krankheit in verschiedenen Stadien schildert.
Aufschlußreich und durchaus zu parallelen Betrachtungen der heutigen Zustände anregend ist das beschriebene Verhältnis von Medizin oder den Wissenschaften im allgemeinen zur Macht. So erweist sich ibn Sinas Lebensweg auch immer als eine Suche nach Gönnern, nach großmütigen, aufgeklärten Herrschern, die an ihren Höfen die Männer des Geistes versammeln und fördern. Aber zugleich mit dieser materiellen Quelle entwickelt sich auch der Faktor der Konkurrenz, des Neides, der Intrigen - was von den Geistesschaffenden zumindest eine wache Haltung gegenüber ihrer politischen Umgebung erfordert. Im Falle ibn Sinas führte das immer wieder auch zum fluchtartigen Verlassen bisheriger Wirkungsstätten. Einmal versuchte auch er sich als Wesir von Hamadan in der Politik, muß aber nach einigen Jahren einsehen, daß beides zugleich - Macht u n d Wissenschaft - selbst von ihm nicht zu bewältigen ist.
Die Ausstattung des Buches mit einführenden Bemerkungen zur historischen Situation, mit Fußnoten, einem kurzen Glossar und Anmerkungen zu den Werken Ali ibn Sinas sowie ein Literaturverzeichnis erleichtern den Zugang zum Stoff und öffnen Wege für weitere Lektüre. Darüber hinaus künden sie von der Ernsthaftigkeit des Autors, von dem bereits drei weitere historische Romane ins Deutsche übersetzt wurden. Das vorliegende Buch gehört also nicht in eine Reihe reißerischer Bestseller über Wunderheiler vergangener Epochen, sondern bringt uns mit dem Schicksal eines herausragenden Wissenschaftlers nicht nur einer bestimmten Entwicklungsstufe seines Fachgebietes näher, sondern gibt zugleich einen profunden Einblick in die Geschichte des Mittleren Ostens.