Eine Rezension von Helmut Hirsch
Die Freiheit eines Sklaven
Goffredo Parise: Der Padrone
Roman.
Aus dem Italienischen von Astrid Claes und Sigrid Gori.
Verlag Klaus Wagenbach (Wagenbachs Taschenbuch 279), Berlin 1997, 272 S.
Dies ist mein erster Tag in der großen Stadt, in der ich Arbeit gefunden habe. Ich kann eine gewisse Erregung nicht leugnen; von heute an ändert sich mein Leben grundlegend: Bis gestern war ich ein Junge aus der Provinz, der keine Lira besaß und seinen Eltern auf der Tasche lag. Heute dagegen bin ich ein Mann, der Arbeit gefunden hat und der von nun an für sich selber sorgt, ja, der schon an eine eigene Familie zu denken beginnt und - wenn der rechte Augenblick gekommen ist - auch daran, euch, liebe Eltern, zu unterstützen.
So beginnt der Roman Der Padrone von Goffredo Parise. Der Autor, 1929 in Vicenza geboren, arbeitete als Drehbuchautor, Journalist und Erzähler. Der Padrone erschien in Italien 1965 und wurde mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Seit 1960 lebte Parise in Rom, wo er 1986 starb.
Liest man den Anfang des Romans Der Padrone, dann scheint alles möglich. Ein jugendlicher Held kommt in die Großstadt (vielleicht ist es Mailand, vielleicht aber auch Rom), hinter sich hat er die Provinz, vor sich das Leben mit einer Arbeit. Aber alles kommt anders, als es der erste Eindruck zu versprechen scheint. Die große Stadt erscheint dem Zwanzigjährigen, der keinen Namen hat, unübersichtlich. Dann steht er vor der Firma, ein Handelshaus, das kafkaesk erscheint. Zur Straße hin ist es ein altes Bürgerhaus, dahinter steht ein monströser Glaspalast. Zwei architektonische Welten nebeneinander, ineinander. Sie spiegeln zugleich das eigenartig ambivalente Innenleben des ganzen Unternehmens. Unübersichtlich, undurchdringlich, permanent rätselhaft wie in einem paradoxen Märchen geht es hier zu. Der Fremdling aus der Provinz bestimmt aber auch die Perspektive, aus der erzählt wird. Er ist es, der seine naiven Erwartungen beschreibt. Voller Neugier auf die Entdeckungen der modernen Welt, besitzt er Bescheidenheit und die Dankbarkeit der Menschen jener weltverlorenen Ortschaften auf dem Lande. Sein Chef, Doktor Max, nimmt sich des Jünglings aus der Provinz an. Er, der Padrone, selbst unsicher, gepeinigt vom Vater Doktor Saturno, hin- und hergerissen von den Intrigen seiner Angestellten, schwankend zwischen Moralität und Gewinnsucht, Glanz und verspielter Enthaltsamkeit, sucht allemal Leute, die ihm untergeben sind. Im Zwanzigjährigen findet er geradezu ein Muster an willfähriger Unterwürfigkeit, den Prototyp des modernen Sklaven. Mit ihm vermag der Padrone auch seine makaberen Scherze zu treiben. So stellt er dem Zwanzigjährigen seine Toilette als Arbeitsraum, nur geringfügig verändert, zur Verfügung. Dieser nimmt alles an, sieht darin keine Demütigung, eher deutet er es als Vorteil, denn so kann er sich ganz in der Nähe des Chefs bewegen. Dennoch sucht er nach einem Ideen-Gerüst, um das Unbegreifliche zu begreifen, um des Überlebens willen. Es besteht kein Zweifel mehr für ihn, wer oben und wer unten ist. Es gibt die Max-Ebene und die Angestellten-Ebene, dort sieht er sich, seiner Nähe zu Max wegen, hervorgehoben. Noch denkt er an die Eltern und an Maria, doch schon ist er glücklich über seinen Arbeitsplatz: ein kleiner Teil des produktiven Ganzen der Handelsfirma. Was die Firma entwickelt und vertreibt, bleibt schleierhaft. Nur einmal ist von einer starken Nachfrage nach einem bestimmten aus dem Norden eingetroffenen schalldämmenden Isolierungsmittel die Rede. Ansonsten bleibt der Bezirk der Arbeit verhüllt und fremd. Fremd bleiben aber auch dem Zwanzigjährigen die Beziehungen derer, die in solche mysteriösen Arbeitsverhältnisse verstrickt sind. Und da auch er nur vage Handelsprojekte entwerfen soll, im Grunde aber nichts zu tun hat, ist sein Alltag damit ausgefüllt, Mitarbeitern zu begegnen, ihnen auch aus dem Weg zu gehen, sich bisweilen in Intrigen einspinnen zu lassen und beständig an einer Art Arbeitsreligion zu basteln. Sozusagen als Schutz vor dem Schlund, der in den Abgrund führt. Die schöne Selene zum Beispiel wirft ihm im engen Büro nicht nur feurige Blicke zu, sie zeigt ihm auch ihren schönen Busen. Ältere Angestellte machen ihm Vorschriften, hänseln ihn oder lassen ihn links liegen. Doch der Zwanzigjährige definiert sich und seine Stellung in der Firma. Das scheint die Hauptarbeit: Der Sinnlosigkeit doch zumindest die kecke Hülle eines Sinns zu geben. Und das heißt: Er empfindet sich als Eigentum des Padrone. Denn der will es ja so. Im Gespräch formuliert es Doktor Max stellvertretend für alle Angestellten: Sie werden nie zu Besitz kommen, trotz aller Anstrengungen, und sie werden sich darauf beschränken müssen, ihr Büro und sich selbst in diesem Büro zu bewundern, bis sie völlig eins damit geworden sind, da sie nicht begreifen, daß das Büro mir gehört und daß sie durch ihr Einswerden mit jenem Glas, mit den Möbeln und der Klimaanlage und, was noch schlimmer ist, mit dem Wesen all dieser Dinge, genauso und automatisch mir gehören.
Hier die wenigen Mächtigen, dort das Heer der Untergebenen. Wir betrachten das Modell des Kapitalismus, kapriziös und ein bißchen italienisch funktionierend. Parise schildert die Welt der Angestellten, zeigt aber am Beispiel des Zwanzigjährigen die dubiosen Spannungen zwischen Eigentümern und denen, die Eigentum der Eigentümer sind. Ganz freiwillig und voller Einsicht in die Notwendigkeit des Unvermeidlichen. Es gibt den historischen Hintergrund dieser Entfremdungspraxis. Gerade in den sechziger Jahren setzt die große Landflucht der jungen Leute im Norden Italiens ein. Weil die Agrar- zur Industrienation mutiert, werden Millionen Landarbeiter in den Städten des industriellen Nordens zu Facharbeitern oder Angestellten. Der Zwanzigjährige bekommt allerdings Arbeit, die gar keine ist. Und dieser Gewinn bringt Verluste mit sich. Von der Verlobten trennt er sich bald, die Eltern und die Heimat geraten in den Hintergrund. Der Kampf gegen die Wirrnisse des Lebens, das fremd und undurchsichtig ist, findet kaum statt. Insofern spart der Roman auch tatsächliche Bewegungen in der italienischen Gesellschaft jener Jahre aus. Parise konzentriert sich auf die Mechanismen der Unterwerfung des einzelnen. Der Zwanzigjährige gibt sich von Anbeginn geschlagen. Er weiß, daß er ausgeliefert ist, also liefert er sich zustimmend und sogar mit Leidenschaft aus. Doch es geht nicht ohne Verluste. Die Selbstauslöschung, vorwiegend in der Form der Selbstbetäubung, staut jene Energien, die der Mensch von Natur aus in sich trägt. Selene, die liebliche Sekretärin, spielt auch ihr Spiel. Sie erscheint zugleich sinnlich und unschuldig, doch bleibt sie dem Zwanzigjährigen fremd und anziehend zugleich. Das reizt bis zur Verzweiflung, wenn auch nur in Gedanken: Ihre starke, gewölbte Stirn läßt einen sehr harten Schädel vermuten, so als spanne sich die Wölbung von Schläfe zu Schläfe nicht über einer entsprechend großen, sondern nur über einer ungewöhnlich dicken Hirnschale. Man bekommt Lust, diesen Schädel mit einem Hammer zu zerschmettern, um zu sehen, was darin steckt.
Es scheint, als habe der Ich-Erzähler nicht nur seine Naivität verloren, sondern auch seine Balance, die verquere Ausgewogenheit des Angepaßten. Doch alles ist Schein. Denn Lug und Trug, Versteck- und Verwechslungsspiele am Arbeits-Platz und in der Freizeit verlocken zu aggressiven Handlungen. Dem einen möchte er es mit Ohrfeigen heimzahlen, den andern sonstwohin wünschen. Zugleich besitzt er aber Intelligenz genug, um immer neue Erfahrungen zu sammeln. Lotar zum Beispiel ist ein Universalmensch, einer, der in jeder Firma geschätzt wird, weil er für fast alles eingesetzt werden kann. Und er ist einer, dessen Tätigkeiten auch den Zwanzigjährigen interessieren. Einmal ist er Affenschädel-Pförtner, daneben Gärtner, Kellner und Chauffeur, zugleich aber auch Krankenpfleger. Seine Maxime: Ich liebe den Befehl und gehorche gern. Der Zwanzigjährige interviewt ihn ausgiebig. Auf die Frage, was er im Falle seiner Entlassung tun würde, antwortet er: Ich brächte mich um oder brächte den um, der an meine Stelle käme.
Goffredo Parise erzählt seinen Roman mit feiner Ironie, bisweilen mit sarkastischem Humor. Schon die Namen der Figuren sind parodistisch und komisch gewählt. Pluto, der das Vertre terbüro leitet, Diabete, der den Ankömmling einweiht, Bombolo, der Zyniker, Selene oder der eitle Maler Orazio.
Die eigentümliche Komik dieses auch schaurigen Romans unter Angestellten ergibt sich aus dem Umstand, daß der Erzähler zwar ein Angepaßter ist (Ich tue absolut nichts, was nicht ausschließlich mit der Firma und mit Doktor Max zu tun hat.), zugleich besitzt er aber nach dem Willen seines Autors einen bemerkenswerten Überblick über das reichlich befremdende Geschehen in der Firma. Er schlaumeiert geradezu, und dazu ist ein Mensch, der von sich sagt, er gehorche aufs Wort, nicht unbedingt imstande. Einmal widerfährt ihm sogar das Gefühl der Wirklichkeit während einer Begegnung mit dem Vater des Padrone, mit Doktor Saturno. Doch dies bleibt ein Blitzlicht im grauen Meer der Firma. In der es regelrechte Jagdgründe gibt, in denen Angestellte, die mit dem Padrone in Widerspruch geraten, beängstigenden Strafen ausgesetzt sind. Der Erzähler sieht manchen wie ein wildes Tier lauern, redet sich aber ein, er werde nie eine Strafe erhalten.
Doch bevor auch der Zwanzigjährige das Fett des Padrone abbekommt, hat er noch einen wirklichen Tag. Es ist der Tag, an dem Pippo, der sich umgebracht hat, zu Grabe getragen wird. Der Tod als Ausweg aus dem Erdenelend, ein altes Thema in der Literatur. Die Freiheit des Sklaven hat erst dann ihr Ende gefunden, wenn das Unglück der Entpersönlichung zu Ende ist. Und so kommt der Zwanzigjährige zu der Vermutung, die einzige mögliche Wirklichkeit sei der Tod. Was wäre dann alles übrige?
Doch bevor er dieses Ziel erreicht, muß er noch manche harte Prüfung bestehen. Dazu gehört auch die Zwangsheirat mit dem schwachsinnigen Mädchen Zilietta. Die Mutter des Padrone besteht auf diesem Bündnis, gegen das er sich anfangs heftig wehrt. Frau Doktor Uraza, die auch den Padrone als Mutter gängelt, spricht ein Urteil, das die Stellung des Zwanzigjährigen endgültig befestigt: Von Doktor Max verwöhnt, der ihn allzu lange bei sich behalten hat, hat er sich in den Kopf gesetzt, auf irgendeine Weise den Padroni zu gleichen, das heißt denjenigen, die sich nach ihrem Belieben entfalten und fortentwickeln können, fast bis an die Schwelle der Unsterblichkeit. Diese Heirat wird ihm endlich den Sinn für die Wirklichkeit geben, der ihm fehlt, und er wird wieder in die Reihe der Untergebenen, das heißt der Menschen seinesgleichen, zurücktreten.