Eine Rezension von Lili Hennry

Körper, Geist und Seele

Andrew Miller: Die Gabe des Schmerzes

Roman.

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.

Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998, 382 S.

 

Seit Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl hat es immer wieder Romane gegeben, die das Fehlen eines lebens- oder persönlichkeitsbestimmenden menschlichen Merkmals und dessen Auswirkungen für den Betroffenen beschrieben. War es bei Peter Schlemihl der Schatten, bei Tim Thaler das Lachen (James Krüss), bei Patrick Süskinds Held Jean-Baptiste Grenouille der Geruch (Das Parfüm), so ist es bei James Dyer, dem Helden dieses Buches, die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden. Waren die anderen beschriebenen Mängel phantastischer Natur, so ist das Fehlen der Schmerzempfindung ein zwar sehr seltener, doch durchaus auftretender schwerwiegender Defekt der Natur. Um seinen Helden überhaupt lebensfähig zu erhalten, stattet Andrew Miller ihn mit wundersamen Selbstheilungskräften aus, ohne die der kleine James in seiner Kindheit keinerlei Überlebenschance gehabt hätte. Auch im weiteren wird der Autor, in dessen Heimat Mythen und Magie durchaus noch lebendig sind, nur als Kunstgriff zur Magie Zuflucht nehmen müssen. Leider nicht nur an diesen Stellen wirkt die Geschichte rational konstruiert, obwohl die Struktur der Gesamthandlung äußerlich schlüssig ist. Der 1739 geborene James Dyer (im Englischen bedeutet „to die“ sterben) wird aufgrund seiner Behinderung, die er allerdings erst im nachhinein als solche empfinden kann, ein begnadeter Chirurgus, ein Wundarzt werden. Als Kind gilt er als seltsam, ist abgesondert von seinen Geschwistern und Altersgefährten, ohne daß sich für diese Distanz der genaue Grund angeben ließe. Es liegt wohl daran, daß ihm mit der Schmerzempfindung jegliche Empfindsamkeit genommen wurde, sei es für sich selbst oder für andere. Erst ein komplizierter Beinbruch bringt die Erkenntnis ans Licht, als er ohne erkennbare Regung die Knochen richten läßt. Ein Brennversuch mit einer Kerzenflamme bestätigt das Unvorstellbare. Nachdem seine Familie, einfache Häusler, von den Pocken dahingerafft wurde, begibt sich der Junge auf die Suche nach einem Schausteller, den er bei anderer Gelegenheit kennengelernt hatte. Mit diesem wird er über die Lande ziehen, als Vorführobjekt dienend für den Verkauf eines (wirkungslosen) Schmerzmittels. Bei einem Schauspieler erlernt er den Ausdruck von Gefühlen - Lachen, Weinen, Schmerzensschreie. Obwohl es für ihn mitunter schwierig ist, den richtigen Moment für eine bestimmte Gefühlsäußerung zu treffen, ist er auf der Bühne sehr erfolgreich damit. Die Nadelstiche hinterlassen keine Spuren auf seiner schnell heilenden Haut. Gleichmütig, wie er alles hinnimmt, erlebt er auch die Entführung auf das Schloß des reichen Mr. Canning. Dieser verleibt ihn seinem Kuriositätenkabinett menschlicher Abartigkeiten ein, zu dem unter anderen ein siamesisches Zwillingspaar und eine Wassernixe gehören. Auch hier wird er, diesmal unter dem Vorwand der gelehrten Anschauung, wieder zum Ausstellungsobjekt und allen möglichen Gremien vorgeführt. Als das siamesische Zwillingspärchen vor seinen Augen und denen vieler Zuschauer ohne Narkose, die damals unbekannt war, getrennt werden soll und dabei verblutet, gerät er zum erstenmal mit der Chirurgie in Berührung. Schon als Junge hatte er sich als gelehriger Schüler des Apothekers Kenntnisse im Bereiten von Medikamenten erworben. Nach einem Zwischenspiel gerät er zur Marine auf hohe See und arbeitet dort als Wundarzt, wo er sich durch seine für sich selbst und andere empfindungslose Art in den zahlreichen Seeschlachten bewährt. An Land zurückgekehrt, wird er in der vornehmen Gesellschaft von Bath ein beliebter und erfolgreicher Modearzt.

James Dyer ist kein Zombie, auch keine rational-logisch handelnde Mensch-Maschine, auch kein Mr. Spock, denn völlig frei von Empfindungen ist er nicht, entwickelt er doch einen ausgeprägten eigenen Willen und zumindest großen Ehrgeiz in seinem Beruf, der ihn zu unbedachten Handlungen verleitet. Ein unliebsamer Zwischenfall läßt es geraten erscheinen, die Stadt für einige Zeit zu verlassen. Doch die Reise nach St. Petersburg zur Zarin Katharina ist nicht nur Vorwand für die Abreise, sondern vor allem Ausdruck eben dieses Ehrgeizes. Die Zarin hat ein Wettrennen verschiedener berühmter Ärzte initiiert. Der erste, der den Zarenhof erreicht, darf sie gegen Pocken impfen und mit Ruhm und Gold rechnen. Der legendäre russische Winter macht Dyer einen Strich durch die Rechnung und bringt statt dessen die Begegnung mit der stummen Mary, deren magische Kräfte seine Empfindungen wach werden lassen. Hier müßte der interessanteste Teil des Romans einsetzen, jenseits aller Skurrilität. Der Leser erlebt am Beginn des Romans die Sektion des toten James Dyer, weiß also um dessen Tod im Hause seines vormaligen Petersburger Reisegefährten Reverend Lestrade.

Die ehemalige - wenngleich vom Autor nicht ganz konsequent durchgehaltene - Empfindungslosigkeit führt nach Dyers „Heilung“ zum völligen seelischen und körperlichen Zusammenbruch, angesichts der auf ihn einstürmenden Schmerzen und Gefühle. Kein wahrer Heiler hätte jemals seinen Patienten so unvorbereitet in die brutale Welt stürzen lassen wie die als einfühlsam beschriebene Mary im Roman nach dem Willen des Autors. Hier ist die Chance vertan, den Anpassungsprozeß, das Aufeinandertreffen von Gefühl und Verstand, von Körper, Geist und Seele sichtbar werden lassen. Der Autor übergeht von nun an in rasanten Sprüngen große Entwicklungsstufen. Unvermutet treffen wir den Helden in einer englischen Irrenanstalt wieder, die den Vorwand für neuerliche Skurrilitäten bietet. Die körperlichen Verwundungen seines gesamten Lebens, die wie Stigmata alle gleichzeitig aufgebrochen waren, verheilen langsam, sein psychisch-seelischer Zustand gleicht jedoch dem einer Nußschale auf hoher See. Mary errettet Dyer wiederum, wenn auch weniger wundersam, und bringt ihn in das Haus des Reverends, in dem er bis zu seinem unvermittelten Tode im Jahre 1772 ruhig und relativ unbeschwert lebt. Durch nichts wird schlüssig, weshalb er seine genialen Fähigkeiten als Chirurg und seine körperliche Unverwundbarkeit verlieren m u ß t e, ohne an deren Stelle etwas anderes setzen zu können. Ebenso unklar bleibt sein Tod. Vermutlich ist dem Autor einfach die geistige Trickkiste zugeklappt und damit der Stoff ausgegangen. So bleibt der Roman seltsam unfertig, der Leser fühlt sich vom Autor im Stich gelassen und um ein facettenreiches Bild des Wiedereintritts seines Helden ins Leben betrogen.

Die interessante Idee konnte nicht bis zum Ende durchgehalten werden. Spektakuläres ersetzt in diesem Roman seelisch-geistige Entwicklungsprozesse. Anstelle von psychologisch durchdrungenen Charakteren und Abläufen reiht Andrew Miller Merkwürdigkeit an Merkwürdigkeit. Vor allem die im Klappentext als Romanidee bezeichnete Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein, bleibt unbeantwortet, da Dyer kurze Zeit nach seiner Rückkehr ins Leben stirbt, d. h. zu einem Zeitpunkt, der keine besondere Prüfungssituation beinhaltet. Oder war die eigentliche Aussage, daß alle Menschen unnormal sind? Das Buch wirkt wie sein etwas zu ausführlich geratenes Exposée. Offensichtlich möchte sich der - zugegebenermaßen begabte - Autor eingereiht wissen in die große englische Erzähltradition. Dafür ist jedoch noch einige Übung vonnöten. Laut Klappentext arbeitete der 1960 geborene Autor als Kellner, Reiseführer und Kampfsportlehrer und schreibt gegenwärtig an seinem zweiten Roman. Der vorliegende Erstling wird zur Zeit in 16 Sprachen übersetzt.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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