Eine Rezension von Manfred Lemaire
Zugang zum großen Meister
Erika Mann: Mein Vater, der Zauberer
Herausgegeben von Irmela von der Lühe und Uwe Naumann.
Rowohlt Verlag, Reinbek 1996, 558 S.
Der Inhalt dieses Buches ist in drei Teile gegliedert. Hinzu kommen - statt Einleitung - ein Interview sowie ein Nachwort der Herausgeber. Teil I, Briefwechsel mit den Eltern Katia und Thomas Mann, umfaßt Korrespondenz aus den Jahren 1919-1955, darunter zahlreiche bisher unveröffentlichte Originale aus dem Thomas-Mann- und dem Erika-Mann-Archiv. Ein Auswahlprinzip ist nicht erkennbar, es sei denn, man nimmt den Neuigkeitswert der bisher überhaupt nicht publizierten Briefe und die Zusammenstellung von besonders interessanten Erstdrucken aus verschiedenen Quellen als Kriterium. Teil II enthält Essays, Statements, Kommentare von Erika Mann aus den verschiedensten Publikationen, darunter ein rührendes Porträt ihrer Mutter Milein von 1954, die Einleitung zur Neuausgabe von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (Frankfurt/Main 1956) und Das schwierige Sonntagskind. Portrait meines Vaters (Wien 1969, aus: Thomas Mann. Eine Auslese, Titel hier von den Herausgebern). Teil III ist der Wiederdruck von Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater, eine umfangreiche selbständige Schrift, noch im Todesjahr 1956 im S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, erschienen, ein besonderes Zeugnis literarischen Könnens der Journalistin, Schriftstellerin und liebenden Tochter Erika.
Sie hat es - aus welchen Gründen auch immer - nie geschafft, die von ihr gewollte und mit dem Fischer Verlag vertraglich vereinbarte Biographie des Vaters zu schreiben. Vielleicht hätte sie dazu mehr Kraft gebraucht, als sie noch hatte. Der vorliegende Band nun gesellt sich der von Erika Mann besorgten dreibändigen Briefausgabe und ihren anderen Veröffentlichungen über den Vater hinzu, die sich auch als eine Art Biographie-Ersatz lesen, wie die Herausgeber im Nachwort bemerken. Dieses Nachwort ist als ein selbständiger Teil des Buches zu werten. Er dient - ebenso wie die Anmerkungen zu den Briefen - in hohem Maße dem Verstehen von Vorgängen, die im Briefwechsel mit den Eltern zwar eine Rolle spielen, aber naturgemäß von den Schreibern nicht erläutert werden. Zugleich würdigt das Nachwort aus gemeinsamer Sicht der beiden Autoren die Persönlichkeit des großen Schriftstellers, seine Fehlbarkeit andeutend. Es ist eine sachliche Würdigung, unaufgeregt, ohne editorische oder gar politische Effekthascherei, um Ausgewogenheit bemüht. Irmela von der Lühe, Jahrgang 1947, lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und hat 1993 die erste umfassende Biographie Erika Manns veröffentlicht. Uwe Naumann, Jahrgang 1951, Publizist und Verlagslektor in Hamburg, ist Mitherausgeber der Monographie-Reihe bei Rowohlt. Sachkunde und Umsicht, die sich in dem sorgfältig hergestellten Band zeigen, sprechen für beide.
Sie benennen im Nachwort nicht nur die vielfältige Tätigkeit Erika Manns als Begleiterin, als hilfreicher weiblicher Eckermann, in der sie dem Vater immer unentbehrlicher wurde, sondern erinnern auch an ihre darüber hinausgehende Rolle als politisches Gewissen. War es doch diese Tochter, ältestes von sechs Kindern, die Thomas Mann schließlich im Februar 1936 zur öffentlichen Äußerung gegen die Nazis zwang, was zugleich einen tiefgehenden Konflikt zwischen Vater und Tochter beendete.
Erika Mann, die nach dem Tod ihres Vaters (12. August 1955) als Nachlaßverwalterin seine Statthalterin auf Erden wurde (so Hans Sahl in Das Exil im Exil, Frankfurt/Main 1990), war zu Thomas Manns Lebzeiten in der Tat sein politisches Gewissen, die letzte Instanz, an die der ewig Zaudernde und Zögernde sich wandte, wenn er nicht weiter wußte (Sahl). Nicht auszudenken, wie er heute vor der Nachwelt dastünde, hätte er damals nicht auf Drängen der Tochter, ja auf deren ultimatives Verlangen eine hinreichend klare Position bezogen, spät, aber keineswegs zu spät. Immerhin gab es in seiner Entwicklung, und darauf weist das Nachwort hin, ja auch eine konservativ-demokratiefeindliche Phase.
Mutter Katia schreibt am 4. August 1949 aus Amsterdam an Tochter Erika, bringt ihre Erleichterung zum Ausdruck, dem Boden D.s entronnen zu sein, obwohl der Aufenthalt in beiden Deutschlands, äußerlich und persönlich, ja durchaus erfolgreich bis triumphal verlaufen sei. Den historischen Hintergrund dieses Briefes ergänzend, wird im Nachwort an den zweiten großen Streit zwischen Tochter und Vater erinnert, der sich vor dieser 1949er Reise Thomas Manns zum Goethe-Jubiläum nach Frankfurt/Main, dort auch zur Entgegennahme des Goethe-Preises, und nach Weimar entzündet hatte: Beide Auftritte wurden von Erika strikt abgelehnt. Einmal, so die Herausgeber, weil sie die östlichen Feiern nicht durch die Anwesenheit Thomas Manns aufgewertet sehen wollte, zum anderen, weil sie der im Westen öffentlich ausgetragene Streit darüber (empörte), ob Thomas Mann als Emigrant überhaupt ein würdiger Preisträger und Festredner sein könne. Diesmal ist er dem dringenden Rat seiner Tochter nicht gefolgt, einer Tochter übrigens, deren Arbeit als postume Herausgeberin nicht makellos war. Hinweise auf seine homoerotischen Neigungen ließ sie dem Vater nicht durchgehen (Nachwort), sie wurden von der resoluten Erika in der dreibändigen Briefausgabe einfach gestrichen. Die erst nach ihrem Tod (1969) veröffentlichten Tagebücher des Vaters hatte sie nicht gelesen, vermutete darin nur Belangloses. Wahrscheinlich aber hätte sie auch in Kenntnis des streckenweise doch recht brisanten Inhalts der Tagebücher die Streichungen vorgenommen, getreu ihrer vom Vater tolerierten, ja geförderten eigenwilligen Helfer- und Wächterfunktion.
Solche Details runden das Porträt Erika Manns, das sich aus den Selbstzeugnissen und Briefen des vorliegenden Buches ergibt, und das Bild ihres Vaters, zu dem sie selbst so viel beigetragen hat, hier nun mit Hilfe der beiden Herausgeber. So begegnen wir eigentlich Vater und Tochter, Tochter und Vater. Dies gilt besonders für Mein Vater Thomas Mann, das statt einer Einleitung erstmals gedruckte Schweizer Rundfunk-Interview Erika Manns, 1968 von Roswitha Schmalenbach geführt. Wir begegnen der liebenden und zugleich respektlosen Tochter, der couragierten Mitarbeiterin und literarischen Betreuerin, werden auch an die heitere junge Frau erinnert, deren Clownerien einst den zurückhaltenden, sich eher zeremoniell gebenden Vater zu Lachtränen hingerissen haben. Trotz des Anteils am Werk des Vaters aber spielt sie sich nicht in den Vordergrund, sondern tritt hinter ihren geliebten Zauberer zurück. So hat dieses Interview Anspruch auf einen selbständigen Platz neben den drei Teilen und dem Nachwort des Buches.
Man sagt, der Zugang zu einem Schriftsteller werde durch das Lesen seiner Werke geschaffen. Dagegen läßt sich nichts sagen. Thomas Mann aber - ein Stück davon entfernt, von der Mehrheit des Volkes gelesen zu werden - ist einerseits etwas schwierig zu bewältigen, denkt man nur an seinen Tonsetzer Adrian Leverkühn. Er verbreitet andererseits als ganz Großer eine heilige Scheu bei denen, die noch keine Zeile von ihm kennen. Hier nun, in dieser Situation und mit diesem Buch, vermittelt des Literaten liebstes Kind eine Begegnung mit ihm, die dem Kennenlernen dienen, aber auch Kenntnisse vertiefen kann. Hier hat die Tochter eine geistige Brücke gebaut, die auf eine relativ mühelose, unterhaltsame und zugleich bildende Weise zum Meister führt. Kein geringes Verdienst der Herausgeber, die dabei geholfen haben.