Eine Rezension von Gabriele Reinhold
Außer Kontrolle
Chaim Lapid: Bresnitz
Roman.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Berlin Verlag, Berlin 1998, 317 S.
Ein spannender Krimi auf höchstem literarischen Niveau, ein psychologisches Meisterstück, souverän und fintenreich erzählt, heißt es im Klappentext dieses Romans - und es ist - man möchte es kaum glauben - nicht übertrieben, was die Werbung verspricht. Dies ist ein subtiles, ein nachdenkliches, ein packendes Buch, brillant und perfekt irreführend konstruiert, über einen scheinbar ganz normalen Mord und seinen obsessiven Aufklärer. Ein fulminanter Lesegenuß mit einem verblüffenden, atemberaubenden Finale - geboten von einem Nobody des Krimigewerbes, der die Kunst der Suspense offensichtlich beherrscht.
Der Titel des Romans ist so nichtssagend wie treffend. Bresnitz ist der Name des Inspektors, dem der Autor dieser Geschichte die Ermittlungen in einem Mordfall überträgt.
In einem Wald bei Jerusalem wird die Leiche eines Mannes gefunden, die in einem kaum mehr zu identifizierenden Zustand ist. (Aber das ist das Allertoteste, was mir in meinem Leben über den Weg gelaufen ist.) Besonderes Kennzeichen: Ihr fehlt ein Ohr. Keiner kennt den Toten, niemand vermißt den Mann. Der Fall landet zwischen Aktendeckeln und wie andere ungelöste Fälle auch auf dem Schreibtisch von Inspektor Bresnitz, als der, von einem schweren Autounfall genesen, nach mehreren Monaten aufs Revier zurückkehrt. Warum der Inspektor, ein introvertierter Mittvierziger mit bibliophilen Neigungen, Typ einsamer Wolf und Misanthrop, sich gegen den massiven Widerstand seiner Vorgesetzten halsstarrig auf diese Waldleiche kapriziert, hätte er selbst nicht sagen können. Der Autor weiß es dafür um so besser. Bresnitz steckt in einer tiefen Sinnkrise, seine Seele ist krank, und Arbeit ist ein probates Mittel, Probleme zu verdrängen. Nur will ihm das nicht so recht gelingen, im Gegenteil. Das Verbrechen entwickelt sich zu einem ganz vertrackten Fall. Der Inspektor befindet sich auf der Fährte eines Mordes, die kein Ende nehmen will. Jede Wendung, die die Ermittlungen bringen, stellt ihn vor neue Rätsel. Die Suche nach dem Mörder - Ein Unbekannter, bei dem man sich jedoch nicht sicher sein konnte, ihm nicht schon einmal begegnet zu sein. - wird für Bresnitz zu einer Leidenschaft, die selbstzerstörerische Ausmaße gewinnt und ihn an den Rand des Wahnsinns treibt: Wir kriegen unseren Mann schon noch, und wenn es das letzte ist, was ich tue.
Das Verbrechen, das in diesem Buch aufzuklären ist, erfordert die ganze Phantasie des Lesers, und auch die wird womöglich nicht ausreichen, dem Täter auf die Spur zu kommen. Bis zur wirklich allerletzten Seite bleibt er wie hinter einer dichten Nebelwand verborgen.
Neben der Konstruktion des spannenden Rätselspiels widmet sich der Autor insbesondere der Charakterisierung und den Problemen seiner Hauptfigur. Das Geschehen wird weitgehend aus der Sicht von Bresnitz vermittelt, der wie ein Detektiv im klassischen Krimi am stärksten an den Fall gebunden ist. Diese Erzählstruktur ermöglicht es dem Autor, ihn deutlicher zu profilieren als andere Personen. Lapid gewinnt den Leser von Anfang an durch seinen eigenwilligen Helden und glaubwürdige Situationen und zieht ihn langsam, aber unausweichlich in die sich beklemmend zuspitzenden Ereignisse hinein. In Handlungen, Reflexionen und Dialogen werden dem Betrachter die Hintergründe der geradezu manischen Jagd nach dem Mörder - emotional ausdifferenziert und mit viel Sinn für Ironie und einer bemerkenswert bildhaften Figurengestaltung - nahegebracht. Lapid enthüllt den Habitus und die Psyche eines charakterlich sperrigen Mannes, der aus Liebeskummer und in seinem Selbstwertgefühl zutiefst verletzt - seine Geliebte hat ihm den Laufpaß gegeben - aus seiner Mitte gerät und die Kontrolle über sich selbst zu verlieren droht. Bresnitz Ehe ist öde, von seinem Job hat er schon seit langem genug, und trotz alledem eben noch von der Macht der Liebe beflügelt, hat sie ihn plötzlich in düstere Abgründe gezogen. Da ist ihm das Mitgefühl des Lesers auf jeden Fall sicher, wenngleich er nicht schuldlos an seiner Seelenschieflage ist.
Der Roman kommt fast ohne äußerliche dramatische Effekte aus. Bewegt sind vor allem die inneren Vorgänge, die das Denken, Fühlen und Entscheiden des Protagonisten bestimmen und den Lesevorgang auf die ideelle Substanz lenken.
Geschichten wie diese, die vorwiegend auf eine Person hin und aus ihrer Sicht erzählt werden, leiden nicht selten unter einer dünnblütigen Charakterisierung der übrigen Figuren. In diesem Roman hingegen sind selbst die im Hintergrund agierenden Gestalten individuell skizziert. Auf der Fährte des Verbrechens begegnet man Menschen unterschiedlicher sozialer Prägung. Der Autor erfaßt ihr Äußeres, ihre Gewohnheiten und Wesensart und auch die Umgebung, das Milieu, in dem sie leben, und vermittelt dabei ganz unaufdringlich eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der der nicht enden wollende Konflikt zwischen Juden und Palästinensern zur alltäglichen Bedrohung gehört.
Bei aller intensiven Charakterzeichnung verliert der Autor aber nie den Fall und seine Aufklärung aus den Augen. Realistisch und einfühlsam deckt er die scheinbar komplizierte und doch so verblüffend klare Logik eines Verbrechens auf. Der gewaltsame Tod eines Menschen läßt weder Täter noch Detektiv unversehrt, sie alle sind vom Tod berührt - diese Message erfährt in Bresnitz eine spektakuläre Zuspitzung.