Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Augen-Blicke des Sehens

Ralf Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens

Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1997, 364 S.

 

„Dieses Organ besteht aus flüssigen Substanzen und vermag das Licht zu brechen. Zarte Teile, die geschützt werden müssen.“ Vom Auge ist die Rede. Es überrascht den neugierigen Leser, daß Denis Diderot, der Autor der Nonne, der Geschwätzigen Kleinode und des bissigen Dialogs Rameaus Neffe auch ganz nüchtern und akkurat Bau und Funktion des menschlichen Auges beschrieben hat. Doch bald geht Diderot von der Beschreibung des Gesichtssinns zur experimentellen Prüfung der Art und Weise, wie im Auge die Empfindung eines Baumes entsteht, über. Sehen heißt für ihn auch sprechen, bezeichnen, was gesehen wird. So entsteht weit über das Gesehene hinaus ein Bild- und Denkbereich, der den Sehenden in eine Welt der Wunder zu führen scheint. Ohne Augen wäre der Mensch ins Dunkel gebannt, Diderot sagt: „Das Auge führt uns. Wir sind der Blinde, das Auge ist der Hund, der uns führt.“ Diderot lobt nicht nur das Auge, er hebt auch die Leistung des Malers Chardin hervor, dessen Augen ein Bild geschaffen haben, das den Betrachter täuscht und fasziniert. Die Rede ist von einem Stilleben, „Glas mit Oliven“ von 1760, das der Maler so meisterhaft gemalt hat, daß Augen-Täuschung unvermeidlich ist. Genauigkeit schafft Nähe, dazu Unmittelbarkeit, scheint die Wirklichkeit zu übertreffen. Doch Diderot will mehr wissen: „Man versteht diese Magie überhaupt nicht. Da sind dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten, deren Effekt von unten nach oben durchdringt. In anderen Fällen möchten wir behaupten, ein feiner Dunst sei auf die Leinwand gehaucht, und wieder ein anderes Mal, ein leichter Schaum sei darauf gespritzt.“

In nächster Nähe zu Diderot erscheint in dieser Textsammlung Goethe, auch ein Augenmensch. Seine frühe, kurze Liebe zu Friederike Brion in Sesenheim hat ihn zu emphatischen Gedichten, aber auch zu einer nüchternen Betrachtung angeregt. „Wiederholte Spiegelungen“ summiert nach Jahren das „jugendlichselige Wahnleben“ des Jünglings, zugleich bleibt ein Bild zurück, das „wogt immer lieblich und freundlich hin und her, viele Jahre im Innern“. Nun wird der Vorgang, der Poesie hervorbringt, geschildert: „Dieses Nachbild strahlt nach allen Seiten in die Welt aus, und ein schönes, edles Gemüt mag an dieser Erscheinung, als wäre sie Wirklichkeit, sich entzücken und empfängt davon einen tiefen Eindruck.“

Von unzählig vielen möglichen, vorgestellten oder erlebbaren Spiegelungen ist Goethes kurzes Prosastück durchzogen. Es zeigt, wie das erlebte Sehen tiefe Wurzeln bekommen kann, die wiederum zu Blüten und Blütenträumen nicht nur für den, der der Erlebende war, werden können. Ein unendlicher Prozeß des Sehens, des Festhaltens, des Sinnens und des Deutens.

Schon Platon hat einen feinen Dialog zum Thema „Sehen und Denken“ geschrieben. Leonardo da Vinci ist keineswegs nur der große Maler gewesen, er hat auch den Naturwissenschaften ein gebührendes Studium gewidmet. Ihm galt das Auge als ein Universalorgan, es „ist der Herr über die Astronomie, es macht die Kosmographie, es ist Rat und Beistand aller menschlichen Künste, es bewegt den Menschen in die verschiedenen Teile der Welt, es ist der Fürst der Mathematik, sein Wissen ist unumstößlich, es hat die Höhe und die Größe der Sterne gemessen, es hat die Elemente und ihren Wohnsitz herausgefunden“. Ganz poetisch wird das Auge von Leonardo als „Fenster des menschlichen Körpers“ gesehen, nur mit diesem Organ gelinge es dem Menschen, seinen Naturkerker zu verlassen.

Es fällt auf, wie die Naturwissenschaftler einst das Auge des Menschen nicht nur sachlich in seinen Funktionen sahen und beschrieben, sondern auch den ganzen Reichtum der sinnlichen Erfahrbarkeit der Welt im Auge nicht übersahen. Johannes Kepler zum Beispiel bemerkte: „Das Sehen geschieht also durch das Gemälde des gesehenen Gegenstandes auf der weißen und hohlen Wand der Netzhaut.“ Er sieht die wunderbaren Vorgänge im Auge wie eine „Abmalung“ und setzt solcherart das Sehen fast einem künstlerischen Vorgang, nämlich dem der Bildschaffung, gleich. Ein grandioser Mann, der dies so trefflich bemerkte.

Überhaupt lohnt es sich, die Zeugnisse der Philosophen, der Naturwissenschaftler und auch der Dichter und Maler unter dem Aspekt des Sehens einmal gemeinsam zusammenzufassen. Eine Auswahl, die gewiß Lücken hat, hat Ralf Konersmann zu einem Textbuch vereint, dem er den Titel gab Kritik des Sehens. Ein philosophisch inspirierter Titel, auch einer, der verblüffen mag, weil er das im Grunde Selbstverständliche im Vorwort zum Gegenstand komplizierter Untersuchungen stilisiert. Denn das weiß der sehende Mensch allemal alltäglich, jeder Blick ist ein anderer, alles ändert sich, nicht nur die Welt, auch ihre Bilder und Abbilder sind beständiger Schwankung unterworfen.

Konrad Fiedler (1841-1895) und Sigfried Giedion (1888-1968) haben erstaunlich prägnante Aufsätze über Phänomene der Täuschungen und der Einschränkungen des optischen Wahrnehmens geschrieben. Beide sind für den Rezensenten eine wirkliche Überraschung. Fiedlers Theorie der Sichtbarkeit geht von der bemerkenswerten Tatsache aus, daß sich „unser gesamter sinnlicher Wirklichkeitsbesitz auf Wahrnehmungs- und Vorstellungsvorkommnisse beschränkt, die nicht einen gleichmäßig dauernden Zustand, sondern ein Kommen und Gehen, ein Entstehen und Verschwinden, ein Werden und Vergehen darstellen“. Er deutet die Vielfalt der andrängenden und vergehenden Welteindrücke, die das Auge vermittelt, als einen phantastisch-vielverzweigten Vorgang, der zugleich die Grenzen in der Wahrnehmung des einzelnen zeigt. Nicht alles ist dem Sehenden möglich. Die Eindrücke selbst können täuschen oder in die Irre leiten, also bedarf das Sehen der Korrektur, der Befragung, des Vergleichs. Aus solchen Überlegungen ist vermutlich die Idee entstanden, von einer „Kritik des Sehens“ zu sprechen. Dies ist keine Wissenschaft, eher ein Aspekt der besonnenen Nachdenklichkeit über Wahrnehmungsphänomene des Menschen in den verschiedensten Zeiten. Sehr ausführlich beschreibt Konrad Fiedler, daß das Gesehene, wenn es ausgesprochen wird, schon wieder auf einer ganz anderen Ebene als das gerade erst Gesehene steht. Es scheint, als kämen die Künstler, die am nachdrücklichsten das Seherlebnis festzuhalten imstande sind, auch dem Phänomen des Sehens am nächsten. Denn der sinnlich-kreative Augen-Blick des Malers hält die Welt, die er im Ausschnitt gesehen, am eindringlichsten fest. Um aber zugleich auch mit dem Bild von der Welt eine Art Täuschung für den Betrachter abzugeben. Es bleibt, meint Konrad Fiedler, bei der „beständigen ruhelosen Wanderschaft durch alle Reiche des sinnlich Wahrnehmbaren“, eine Wanderschaft, bei der der Mensch sich dem „Gaukelspiel der Assoziationen“ zu entziehen bestrebt sein muß. Daß in diesem Textbuch vor allem die stehenden Bilder den Vorrang haben, auch wenn viel mehr von ihrem Zustandekommen und von ihrer Infragestellung gesprochen wird, nimmt nicht wunder. Denn die laufenden Bilder, die alltäglich vorbeieilenden Bildfetzen und Eindrücke haben ja im Film auch das ihnen gemäße Medium gefunden. Darüber gibt es hier nur einen Beitrag. Und vielleicht sprengt der auch gedanklich und kompositorisch den Rahmen dieser Anthologie. Denn hier steht, ob von Philosophen oder Astronomen, Dichtern oder Malern und ihren Interpreten das sublimierte Bild im Mittelpunkt der Erörterung. Dabei ist selbst das altehrwürdige Tafelbild nie frei von Täuschungen, wir sahen es schon bei Diderots Interpretation eines Stillebens von Chardin. Der Kunsthistoriker Sigfried Giedion hat sich besonders mit Cézanne beschäftigt. Er hat auf die Größe und die Grenzen dieser Kunst hingewiesen. Die Mittel, mit denen die Maler arbeiten, erscheinen schon am Ausgang des 19. Jahrhunderts verbraucht, drehen sich im Kreis. Die moderne Malerei will nicht mehr psychologische Wiedergabe der Welt sein, sondern „eine neue Realität“ schaffen. 1931 geschrieben, ist diese Sentenz noch immer gültig: „Die Malerei will wieder zu ihrer Urfunktion zurück. Sie hatte sie, ehe sie reine ,Kunst‘ wurde und ihre abstrakten Symbole, Runen oder Zeichen jedermann verständlich waren.“

Giedion spricht in aller Kürze aus, was zu formulieren Generationen von Philosophen und Kunsthistorikern Mühe bereitet. Der „Augen-Blick“ des modernen Menschen, sein gesamtes Sehvermögen hat sich geändert und das heißt erweitert: „Es genügt nicht mehr, in der Landschaft den Widerhall einer Stimmung zu empfinden. Wir sehen weiter. In größeren Zusammenhängen: Flugzeugblick. Wir sehen andererseits schärfer. Das Mikroskop, der Röntgenapparat haben uns eine neue Sichtbarkeit geschaffen. Die ungeheure Welt der anonymen und abstrakten Dinge, das ganze Reich des Amorphen wird in den Kreis unseres Erlebens mit einbezogen. Die Gefühlsspanne wird größer. Es entstehen Zusammenhänge zwischen einem Sternenhaufen und einem Schmetterlingsflügel unter dem Mikroskop.“ Es ist verständlich, daß der Herausgeber Ralf Konersmann von solch prägnanten und anregend-gültigen Texten begeistert war. Eine Begeisterung, die sich leicht auch auf den interessierten Leser überträgt. Es ist auch verständlich, daß der Herausgeber in seinem Vorwort so etwas wie eine „Bedeutungsgeschichte des Sehens“ aufstellen möchte. Linien dazu gibt es genug. Doch wenn die Deutungen einsetzen, wird es manchmal problematisch. Da zeigt sich, daß es mit der Sprache auch Schwierigkeiten gibt. Durch Formulierungen wie „Fragehorizont“ oder „Bedeutungshof des Sehens“ kommt Unschärfe in die doch so wunderbar klaren Bilder der meisten Beiträge dieses Bandes. Es ist auch unhaltbar, wenn der Herausgeber einen Aphorismus von Lichtenberg zitiert („Philosophieren können sie alle, sehen keiner“) und dazu behauptet, Lichtenberg habe damit eine Formel aufgestellt, „die Fachkritik und Resignation schlagend zusammenbringt“. Dies ist nicht nur Nonsens, hier wird zudem der Aphorismus aus dem Zusammenhang eines größeren Sudelbuch-Textes gerissen. Von Feuerbach bietet der Herausgeber „Aphorismen“ (ein Titel, der hinzugefügt wurde), von Lichtenberg hätte er zuhauf aphoristische Beispiele aus den Sudelbüchern bieten können, die zum Phänomen des Sehens und des Irrens brillante Einfälle zeigen. Hier nur zwei, die die Weite und den Witz des Göttingers deutlich vorstellen: „Wir können, ohne den Kopf zu drehen, mit zwei Ohren rings herum hören, aber nicht mit zwei Augen rings herum sehen.“ - „Wenn ich nun auf einen neuen Gedanken, auf eine Theorie gekommen bin, allemal zu fragen: Ist denn das auch wirklich so neu, als du glaubst. Dieses ist auch überhaupt die beste Erinnerung, nichts in der Welt anzustaunen.“

Summa summarum: Eine Kritik des Sehens ist bereits Alltag. Vor mehr als zweihundert Jahren schreibt Lichtenberg. „An jeder Sache etwas zu sehen suchen, was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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