Eine Rezension von Waldtraut Lewin
Der alltägliche Faschismus - aus der Sicht einer Zwergin
Ursula Hegi: Die Andere
Roman.
Deutsch von Cornelia Holfeldervon der Tann.
Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 730 S.
Der Roman beschreibt das Leben der Trudi Montag in einer deutschen Kleinstadt von 1915 bis 1952. Trudi Montag ist unter Normalwüchsigen als Zwergin geboren worden.
Das ist eine interessante Ausgangsposition für einen Blick auf den alltäglichen Faschismus- der Blick aus einer Perspektive von unten in des Wortes konkreter Bedeutung. Blick einer Kleinen auf eine kleinbürgerliche Welt, auf den Mikrokosmos eines Örtchens, in dem jeder von jedem alles weiß, auch wenn er es nicht sagt, jeder folglich in der Lage wäre, seinen Mitmenschen alles zuzufügen oder alles abzunehmen.
Es würde zu weit führen, die vielfältig verschlungenen Handlungsstränge der Geschichte, die Menge der unterschiedlichen Figuren und die Zahl der Geschehnisse darlegen zu wollen. Der Roman ist ein Zeit-Bild, und er bewegt sich in den Dimensionen von großen Genre-Szenen: Kein Detail wird vernachlässigt.
Trudis mühevoller Weg von der verlachten oder bemitleideten Außenseiterin zu einer im Ort geachteten, ja sogar gefürchteten Person wird über ein breitgefächertes Spektrum von Begegnungen und Erlebnissen vorgeführt: von der traumatischen Verhöhnung durch eine Bande von Jungen ihres Alters - denen sie auch später nie verzeiht - bis zur Selbstwert stiftenden Begegnung mit der Artistin Pia, die selbst eine Kleinwüchsige ist und an der Trudi lernt, daß Anderssein auch Macht bedeuten kann.
Die Zwergin in ihrer Leihbibliothek wird so etwas wie das geheime und moralische Zentrum der vom Faschismus genauso wie jede andere demoralisierten Stadt - sie ist gleichzeitig der Mittel- und Ausgangspunkt aller Gerüchte und Geschichten des Provinzkaffs, wird ob ihres Alleswissens und ihrer spitzen Zunge respektiert - und verhilft mit einigen gleichgesinnten Freunden jüdischen Flüchtlingen zum Entkommen in die nahe Schweiz oder versteckt sie, rettet Leben.
Niemals freilich vergibt sie ein ihr angetanes Unrecht: Die Familien der Jungen, die sie damals demütigten, und diese selbst, inzwischen zu Männern herangewachsen, werden von ihr mit unversöhnlichem Groll verfolgt. Sie vergißt nichts. Und sie ist treu bis zuletzt denen, die ihr Gutes taten - eine kleine Nemesis, Göttin strafender Gerechtigkeit inmitten allen Unrechts. Nie erfährt die kleine Stadt jedoch ihre letzten Geheimnisse. Daß Trudi Montag einen Liebhaber hatte, daß auch sie glücklich und erfüllt gelebt hat, hält niemand für möglich. Der Tod dieses Mannes - er kommt im Brand von Dresden um - beendet aber nur eine Episode in Trudis Leben. Sie gehört wieder voll ihrer Stadt und den Verstrickungen in ihr. Die Nachkriegszeit über widmet sie sich den Kindern der Männer, die sie selbst gern geliebt hätte ...
Ursula Hegi, gebürtige Deutsche, lebt seit über achtzehn Jahren in den USA. Dies Buch kann man wohl ansehen als eine Art Bilanz einer Tochter mit ihrem Elternhaus. Als den Versuch, sich seiner Wurzeln zu versichern.
Hegis Buch ist genau recherchiert, es hat eine Fülle von interessanten Figuren und einen Grundeinfall. Daß es den in der Blechtrommel schon mal gab, soll man ihr nicht zuungunsten anrechnen. Hier verläuft es eben doch ganz anders, und ich will es auch in keinem Fall auf einen Vergleich ankommen lassen. Die beiden Romane sind nicht kompatibel. Hegi erzählt realistisch, in der Tradition des Genres, so wie es sich um die Jahrhundertwende herausbildete, in ruhigem Fluß, es gibt nichts Grelles, kaum Skurriles, obwohl die Story es nahelegen würde, und alles fließt so breit dahin wie der Strom, an dem die kleine Stadt liegt und in dem Trudi so gern badet. Die Menschen sind Durchschnitt, mehr oder weniger, mal driften sie halt nach oben weg und mal nach unten. So daß bei aller Achtung, die ich vielen Einfällen, vielen gelungenen Porträts bereitwillig zollen will, doch der Eindruck des Betulichen überwiegt. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn man den Fleiß eines Autors mit unter seine rühmenswerten Eigenschaften zu zählen bereit ist. Meist fehlt dafür etwas anderes.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieser Roman ganz speziell für die Amerikaner geschrieben wurde. Frau Hegi wollte ihren neuen Landsleuten nahebringen, wie das bei ihr zu Hause denn damals gewesen war oder gewesen sein könnte. Die kleine Stadt als Lebens-Raum ist ja auch in den Staaten ungemein präsent. Deutsche sind auch bloß Amerikaner. Gut und Böse gleich neben dem gleichen Kirchturm, nur eben jenseits des großen Teichs. Da tragen die Leute halt statt des Sheriffsterns die Naziuniform, aber die Tochter des Schlachters heiratet genauso den Sohn des Anwalts, wie das in Maine oder Visconsin passieren könnte. Bloß, daß die Guten hier auch noch Juden im Keller versteckt hatten, wie sich das gehört.
Und dieser Impetus würde mir vieles erklären, was ich einfach als zu breit, zu schwerfällig, kurz: zu langweilig empfinde. Es gibt auf dem deutschen Büchermarkt andere, kompetentere, tiefgreifendere Darstellungen dieser Zeit. Die Andere ist kein schlechtes Buch. Aber man hätte es nicht unbedingt übersetzen müssen.