Eine Rezension von Maria Careg

Lebensfunken

Anna Bolecka: Der weiße Stein

Roman.

Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp.

Berlin Verlag, Berlin 1998, 239 S.

 

„Die Welt ist voller Funken ... Viele solcher Funken schlummern noch in der Asche, im Zwielicht des Bösen. Sammelt sie, auf daß sie zu ihren Ursprüngen zurückkehren, und dann wird ein großes Licht am Himmel aufleuchten und die Erde erhellen.“ Das Leben ihres Urgroßvaters ist für Anna Bolecka ein ganzer Funkenregen. Nie lernte sie ihn kennen, und doch überlebte seine Gestalt im Gedächtnis der Familie den physischen Tod. Die Urenkelin sammelte die Funken und fügte sie sorgsam mosaikartig aneinander. In die frei gebliebenen Stellen fügte sie eigene Gedankenlichte ein und schuf ein Buch, das den Leser seltsam berührt. Es ist ein wunderschönes Buch, voll Weisheit, voll Mystik der Natur und des Lebens.

Irgendwann in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts finden polnische Dorfbewohner drei verwaiste Kinder in einem Grab versteckt. Zwei der Geschwister werden in die Stadt gebracht, der „kleine Urgroßvater“, der diesen Moment als seine eigentliche Geburt erlebt, findet in der Familie einer entfernten Verwandten seiner Mutter liebevolle Aufnahme. In dieser Familie wird er gleichberechtigtes Mitglied und bleibt doch gleichzeitig fremd. Dies bewahrt ihn vor der übergroßen Liebe einer Mutter, ihren übertriebenen Sorgen und Ängsten, und ermöglicht ihm so eine umsorgte, aber freiere Entwicklung. Seine Kindheit ist ein magischer Ort. Sonne spiegelt sich in Tautropfen; hingestreckt auf die frisch aufgebrochene Scholle, spürt er den pulsierenden Atem der Erde. Der Zusammenhalt der Dorfbewohner ist intakt. Sein bester Freund ist der jüdische Junge Benko. Gemeinsam nehmen sie Anteil am Lebensrhythmus des anderen, an den religiösen Jahresfesten, ohne unbedingt deren Sinn zu verstehen, aber mit Freude für den anderen. Dies ist üblich so im Dorf. Die ärmliche Sicherheit der Verhältnisse verklärt sich rückblickend zu einer heilen Welt, in der noch Einklang und Harmonie zwischen Mensch und Natur, aber auch den Menschen untereinander herrschte. Der endlose Rhythmus von Werden und Vergehen, von Schlafen und Erwachen, von Gebären und Sterben bestimmt die ewige Wiederkehr des Lebens. Die Autorin zaubert den Hauch herbstgoldener Melancholie über die Szenerie, der dann und wann jedoch die Düsternis von Schicksalsschlägen nicht zu überdecken vermag.

Bereits zu Beginn eines Lebens scheinen alle weiteren Schritte rituell und traditionell vorgezeichnet, sein Lauf von Gott und den Menschen vorherbestimmt. Der quasi über Nacht zum Erwachsenen erklärte Urgroßvater kann den brüsken Abbruch der Kindheit nur schwer verkraften. In dieser schwierigen Phase lernt er die Liebe seines Lebens kennen, die aber in seinem vorgeformten Lebensplan nur einen Platz am Rande einnehmen darf. Für ihn wird sie zum Mittelpunkt seines Lebens. Am Fluß hörte er eines Abends Podolanka mit Mutter und Großmutter von dem weißen Stein in Podolien singen, auf dem Podolanka saß. „Er war entzückt vom Zusammenspiel des Unreifen mit dem Reifen, des Kräftigen mit dem Schwachen, des Jungen mit dem Alten. Jede Stimme erklang mit einem eigenen Ton, doch zusammen bildeten sie eine harmonische Einheit. Als das Lied verklungen war, verstummten Mutter und Großmutter, und wieder sang das junge Mädchen, und beim Klang ihrer Stimme überkam Urgroßvater plötzlich ein lähmendes Gefühl der Lust.“ Diese Lust wird zu lustvoller Liebe, die er ein Leben lang in seinem Herzen bewahrt, weit über die Zeit hinaus, da Podolanka mit ihrer beider Sohn und dem Ehemann zurück in die Heimat zieht. Wie schon als Kind ist der Urgroßvater auch in seiner eigenen Familie ein Fremder. Aber das Glück dieser Jahre mit Podolanka sichert ihm ein erfülltes Leben, auch wenn sein Lebenshunger bis ans Ende seiner Tage nicht abnimmt. Er lebt viel länger als die meisten dieser hart arbeitenden polnischen Bauern, und sein Alter ist nicht frei von jener Schwermut, die dem Widerstreit zwischen Wollen und Können, zwischen Geist und Körper entspringt. Mit klarer Sprache von großer poetischer Kraft zeichnet Anna Bolecka das Bild ihres Urgroßvaters. Man möchte dieses Buch behüten wie eine kostbare eigene Familienerinnerung, die Unwiederbringliches bewahrt. „Legt das Buch auf einen Berg. Der Wind wird die Seiten umblättern, vom Anfang bis zum Ende, vom Ende bis zum Anfang und wieder zurück. Legt es auf einen Berg und seht: Euer Schicksal ist wie das Buch, das der Wind liest.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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