Eine Rezension von Thomas Freitag
Kinderlieder aus zwei Jahrhunderten
Ingeborg Weber-Kellermann: Das Buch der Kinderlieder
235 alte und neue Lieder. Kulturgeschichte, Noten, Bilder. Mit Klavier- und Gitarrenbegleitung.
Schott Musik International, Mainz 1997, 352 S.
Ingeborg Weber-Kellermann legt mit Das Buch der Kinderlieder eine bemerkenswerte und unverzichtbare Publikation vor. 235 alte und neue Lieder dokumentieren die wichtigsten Texte und Melodien vorwiegend der letzten 200 Jahre, seit das Liedgenre seine vollständige Entdeckung, Erforschung und Pflege erfahren hat. Überdies bietet das ansprechende Buch eine fundierte, gut lesbare und über die einzelnen Kapitel verteilte Kulturgeschichte des Kinderliedes. Alle Lieder besitzen Klavierbegleitungen entweder in (älteren) Sätzen von Hilger Schallehn oder in vielen neuen von Manfred Schmitz (im Cover angezeigte Gitarrenbegleitungen enthält das Buch nicht). Die reiche kindthematische Bebilderung trägt zum noblen Anspruch der Publikation bei. Weber-Kellermanns Buch der Kinderlieder ist Liederbuch und Lieder-Lesebuch in einem, es ist die letzte große Publikation der verdienstvollen und erfolgreichen Volkskundlerin und Soziologin. Die Autorin verstarb 1993. Es gibt Beispiele, wo eine Fusion zwischen Singebuch und Lesebuch nicht geglückt ist - hier ist sie außerordentlich gelungen. Weber-Kellermann zeigt, daß die Beschäftigung mit dem Kinderlied ohne entwickeltes Verständnis von Kindheit und Kinderkultur nicht sinnvoll ist. Die Autorin schafft mit ihrem Kinderlieder-Sachbuch ein Gegengewicht zu der in Massenauflage existierenden Ramschware der schönsten, alten Kinderlieder.
Schon 1979 schrieb die Wissenschaftlerin in ihrem wichtigen Buch Die Kindheit: Das höchste Ziel einer kinderfreundlichen Gesellschaft ist es, das Kind als soziales Wesen in seiner Ichfindung zu unterstützen, in seinem Selbstvertrauen zu bestärken. (S. 271) Formulierungen, die diesen Gedanken stützen, finden sich auf vielen Seiten des vorliegenden Buches. Solches Herangehen ist unverzichtbar, weil sich gerade in diesem Genre unrealistische Sichtweisen mit großer Zähigkeit halten. Liederbuchherausgeber und Nutzer des Kinderliedes entwickeln aus der geschichtlichen Tatsache, daß der Entstehungshintergrund des Kinderliedes untrennbar mit der Romantik verbunden ist, die Legitimation, neoromantische bzw. pseudoromantische Klischees auf das Genre projizieren zu dürfen. Kleinheit, Niedlichkeit, Naivität, unbedingte Simplizität - dies sind keine Kriterien, mit denen dem Kinderlied beizukommen ist. W.-Kellermann gibt sich erneut als Anwältin der Kinder zu verstehen (vgl. S. 12, 78, 132, 178, 242, 276, 322).
Die Kapitelüberschriften lauten:
Familienleben und Freundschaft / Zum Einschlafen, Aufwachen und Trösten / Das Leben da draußen - Wandern und Reisen / Natur und Umwelt / Die Zeit - das Jahr / Der Weihnachtsmonat / Die Arbeitswelt in Stadt und Land - Einst und Jetzt / Spaß- und Quatschlieder / Kreis- und Märchenspiele - Abzählreime / Historische Spuren im Kinderlied (mit Exkurs: Wer will unter die Soldaten?) / Friedenslieder und Protest gegen Gewalt und Streit.
Naturgemäß sind Gliederungen schwierig, dies räumt die Autorin ein (S. 304). Problematisch allerdings sind die beiden letzten Kapitel. So sind historische Spuren ... auch in allen vorangegangenen Kapiteln offengelegt, hier werden Nutzung bzw. Indienststellung des Kinderliedes für politische Ziele in Geschichte und Gegenwart aufgezeigt. Zum Zusammenhang von Liederbe und Singekultur der DDR sind weitergehende Überlegungen anzustellen, Weber-Kellermann benennt Aufgaben, die mit dieser Veröffentlichung nicht zu lösen waren. Zwar hat sie mit den Beispielen von M. Hinrichs und S. Bimberg typische Altlasten des DDR-Kinderliedschaffens aufgegriffen, grundsätzlich aber müßte gezeigt werden, was zeitig schon als Ideologieschutt verstanden und wie damit umgegangen wurde.
Hohe Sensibilität erfordert auch das Kapitel Wir sind Kinder einer Erde. Friedenslied und Protest gegen Gewalt und Streit. Ob gerade H. Hoffmanns Struwwelpeter zur Herleitung des Toleranzgedankens in der Kinderdichtung geeignet erscheint, bleibt dahingestellt. Aber Brechts Kindergedichte, die sich auf ein bis dahin nicht gekanntes modernes und entfaltetes Verständnis von gesellschaftlicher Realität gründen, hätte nachgegangen werden müssen. Kinderlieder von Brecht und Eisler haben nach 1945 den Friedensgedanken in großer Wahrhaftigkeit artikuliert, nach 1968 erreichten sie noch einmal einen bedeutsamen Aufschwung. Die Autorin bringt mehrmals GRIPS-Lieder und Lieder von P. Janssens, dagegen bleiben z.B. Wolf Biermanns Kinderlieder und Kinderfriedenslieder (1977) unerwähnt. Mit Blick auf den jüngeren Kinderliedfundus und heute führende Kinderliedermacher bleibt die Auswahl unzureichend. Vahle- und Zuckowski-Lieder sind nicht sorgfältig genug ausgesucht, von musikalisch dürftigen Liedern Klaus W. Hoffmanns hätte manches entfallen können.
Originelle und pfiffige Klaviersätze zu kleinen Kinderliedern zu schaffen ist nicht leicht. Manfred Schmitz, der die meisten Sätze liefert, hat dafür eine glückliche Hand. In der Mehrzahl gelingen ihm praktikable und ansprechende Sätze.
Schwer geben sich Autorin und Verlag mit dem neueren religiösen Kinderlied. Nicht nur, daß dem alten Evangelischen Kirchengesangbuch (1956) eine moderne Ausgabe gegenübergestanden hätte bzw. das schon in 20. Auflage existierende Liederbuch für die Jugend. Geistliche Lieder für Schule und Gottesdienst hilfreich gewesen wäre, auch die anderen diesbezüglichen Quellen von J. Ritzkowski über P. M. Clotz zu A. Ebert/K. Hannemann taugen kaum, ehrliche Religiosität an Kinder zu vermitteln oder diese zu wecken. In Texten aus der von Ritzkowski herausgegebenen Sammlung Die Notenschnecke ... - hier die Nummern 2, 13, 48 - entdecke ich verlogene Religiosität und anstößige Frömmelei. Auch das Hildebrandt/Janssens-Lied Wir träumen einen Traum (Nr. 65) und das bekannte Danke für diesen guten Morgen (M. G. Schneider, hier: Nr. 231) stehen in dieser unsäglichen Tradition. In Weber-Kellermanns Anthologie erscheinen diese Lieder so, als ob eine Pflichtübung zu absolvieren wäre.
Die genannten Einschränkungen schmälern den hohen Anspruch der bedeutsamen Publikation nicht - allein die Aufklärungsarbeit, die die Autorin zum Kinderlied zu leisten vermochte, ist höchst anerkennenswert.
Das Buch enthält ein gut abgesichertes Quellen- und Literaturverzeichnis, mit dem Recherche und Weiterlesen möglich werden. Im Ergebnis dessen wird sich die Vielfalt des Genres bestätigen. Es umfaßt: Brauchtumslied, Ammenreim, Geistliches Lied, Tanzlied, Kinderschlager, Politisches Lied, Spruchvers und Kanon, Parodie, Abzählreim, begleitetes Sololied, Wiegenlied und anderes mehr.