Eine Rezension von Willi Glaser
Rätsel mit Lösungsvarianten
Hubert Reeves/Joel de Rosnay/Yves Coppens/Dominique Simonnet:
Die schönste Geschichte der Welt
Von den Geheimnissen unseres Ursprungs.
Aus dem Französischen von Friedrich Griese.
Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998, 192 S.
Der Prolog stimmt mit seiner scheinbar ernüchternd simplen Fragestellung Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? auf Erklärungsversuche ein, die in der bisherigen Wissenschaftsgeschichte eine Domäne der Religionen der Welt waren. Die schönste Geschichte der Welt basiert zu wesentlichen Teilen auf dem schier unermeßlichen Fundus neuester Erkenntnisse relevanter Wissensgebiete. Sich in den drei Akten Universum, Leben und Mensch einer solchen Problemorientierung allgemeinverständlich und beweiskräftig zu stellen ist für die Verfasser eine beachtliche Herausforderung.
Einfach anmutende Fragestellungen wie die, ob man wirklich von einem Anfang sprechen kann (aber was war dann davor?) oder wie sich der Übergang von der unbelebten Materie zu den heutigen Existenzformen der Natur vollzogen hat, führen den Leser zumeist behutsam - mitunter aber auch (zumindest im ersten Akt Universum) durch die Kompliziertheit der diskutierten Probleme schwer faßlich - durch eine Welt kosmischer, chemischer und biologischer Abenteuer. Profilierte französische Wissenschaftler, wie der Astrophysiker Hubert Reeves, der Biologe Joel de Rosnay und der Paläontologe Yves Coppens, bereiten, befragt von dem Chefredakteur des LExpress, Dominique Simonnet, in erstaunlich konzentrierter und durchgängig logisch verknüpfter Form einen Wissenskomplex auf, der - Erkenntnisse vermittelnd - Nachdenken provoziert. Aufkommenden Zweifeln oder gar zeitweiligen Verständnisblockaden begegnet man mit dem freundlichen Hinweis auf Heidegger, der gesagt hat, daß man ja schließlich nicht sicher sein kann, ob unsere menschliche Logik wirklich die letzte Instanz ist, wenn man die auf unserem Planeten gültigen Schlußfolgerungen auf das gesamte Universum übertragen will ...
So gesehen ist beispielsweise der vor 15 Mrd. Jahren angenommene und aus der Beobachtung der Bewegung der Galaxien abgeleitete Urknall nicht symbolhaft als Grenze der Welt, sondern als Grenze des derzeitigen menschlichen Wissens und Erkenntnisvermögens zu sehen. Seit Anfang der 30er Jahre dieses Jahrhunderts gilt der Urknall bei allen führenden Astrophysikern übrigens als das beste Modell der Kosmosgeschichte als einer Geschichte der sich organisierenden Materie.
Es ist schon faszinierend, wie die Verfasser die Beweisführung der modernen Wissenschaft vom kontinuierlichen Übergang vom unbelebten Universum zum Status quo nachzeichnen - die Chemie mit Umwandlungssimulationen, die Astrophysik mit ihrer Spurensuche nach organischen Substanzen im All und die Geologie mit der Bewertung fossiler Fundstücke. Der wissenschaftliche Dialog vermittelt Denkansätze inzwischen verworfener Theorien, die aber dazu beigetragen haben, das aktuelle Kenntnisniveau zu erreichen. Danach ist das Leben als ein Ergebnis der langen Evolution der Materie, als eine Entwicklungskette über einfache Moleküle, erste Zellen, Pflanzen und Tiere zu begreifen. Es ist gleichzeitig Ergebnis der Wechselwirkungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der jeweils entwickelten Bausteine in der Natur. Am erstaunlichsten dabei ist die Allgegenwärtigkeit des Ausleseprinzips.
Als Primus inter pares erweist sich mit dem 3. Akt das Interview mit Coppens zur speziellen Geschichte der Menschwerdung. In einem facettenreichen und zugleich spannenden Frage-Antwort-Schlagabtausch wird der Leser durch ein Sachgebiet geführt, das nach manch spekulativer Annahme der Vergangenheit in jüngster Zeit zu einem wissenschaftlich exakt fundierten Forschungsgegenstand geworden ist. Heute stehen den Forschern nicht nur theoretische Hilfsmittel wie die Cuvierschen Korrelationsgesetze zur Verfügung, durch die man per Deduktion aus einem fossilen Zahn mit hoher Genauigkeit auf das betreffende Lebewesen schließen kann.
Die Verfeinerung traditioneller Methoden, insbesondere aber die Verfügbarkeit von High-Tech-Instrumentarien (wie Datierungsverfahren durch Radioisotope), brachten Licht in das Dunkel unserer Ahnenreihe. Die Bewertung von Antikörpern auf Zahnsegmenten hat so beispielsweise den Nachweis erbracht, daß der Australopithecus entwicklungsgeschichtlich dem Homo sapiens sehr nahesteht. Ein interessantes Arbeitsergebnis der modernen Biologie war übrigens auch, daß Schimpanse und Mensch eine zu 99% gleiche Genstruktur haben.
Simonnet führt im Gespräch mit Coppens durch die wichtigsten Etappen dieses Teils der Forschungsgeschichte. Dabei wird ein weiter Bogen gespannt: von der Darwinschen Annahme, daß die Wiege der Menschheit in Afrika stand, über Charakteristika bedeutender Fossilienfunde der Ahnenreihe bis zu omnivorer Ernährungsweise, vom Werkzeuggebrauch bis zum aufrechten Gang der Prähominiden und ihren Entwicklungsbedingungen. Coppens weist auf die Bedeutung der Modifikation der Atemwege bei der Menschwerdung hin. Die Lageveränderung des Kehlkopfes war eine der Veraussetzungen für die Herausbildung der Sprache.
Die in drei Akten entstandene Welt von heute schickt sich - wie Joel de Rosnay im Epilog sagt - an, einen 4. Akt anzusteuern, den der kulturellen Evolution. Wird es dem Menschen gelingen, die erworbene Machtfülle in die notwendigen Bahnen zu lenken?
Beeindruckt von der Ereignisvielfalt der anschaulich durcheilten 15 Milliarden Jahre Kosmosgeschichte bleibt dem Leser der Schönsten Geschichte der Welt sehr viel mehr als der präsentierte Bildungswert.