Eine Rezension von Haci-Halil Uslucan

Wer ist der Täter?

L. Greuel/T. Fabian/M. Stadler (Hrsg.): Psychologie der Zeugenaussage

Ergebnisse der rechtspsychologischen Forschung.

Beltz Verlag, Weinheim 1997, 369 S.

 

Die Wahrnehmung der forensischen Psychologie als angewandte Wissenschaft ist in der Öffentlichkeit zumeist negativ getönt und geschieht gerade in letzter Zeit häufig im Zusammenhang mit spektakulären Prozessen um Kindesmißbrauch oder Falschprognosen für Haftentlassene. Dabei ist das Anwendungsfeld der Rechtspsychologie nicht auf strafrechtliche Belange wie etwa die Beurteilung der Schuldfähigkeit, Reifebeurteilung oder Verhaltensprognose von Inhaftierten beschränkt, sondern rechtspsychologische Erkenntnisse finden - bedingt durch entsprechende Rechtsreformen auf diesem Gebiet - in Form von Gutachten zu beispielsweise Sorgerechts- und Umgangsregelung, Kindesherausnahme oder Adoptionsverfahren zunehmend im zivilrechtlichen Bereich Anwendung.

Wenngleich es den Autoren dieses Sammelwerkes nicht primär um eine Imageverbesserung der forensischen Psychologie geht, so ist die Kenntnisnahme der hier vorgestellten theoretischen Differenziertheit rechtspsychologischer Forschung dennoch bestens geeignet, sich ein realistisches Bild von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Faches zu verschaffen.

Die 27 Artikel des Buches sind in vier Bereiche unterteilt:

Im ersten Teil geht es um historische und theoretische Grundlagen der Zeugenaussage. Neben den Anfängen der Zeugenpsychologie bei W. Stern zu Beginn des Jahrhunderts wird die Entwicklung der experimentellen Rechtspsychologie nachgezeichnet und durch gedächtnispsychologische und neurobiologische Erkenntnisse fundiert.

Während im zweiten Teil die Praxis der Rechtspsychologie die Möglichkeiten der Begutachtung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen (sexueller Mißbrauch von Kindern und Vergewaltigungsopfern) im Zentrum stehen, schließt das dritte Kapitel inhaltlich daran an und widmet sich vertieft dem Problem der Beeinflußbarkeit von Zeugenaussagen, wie beispielsweise die Suggestibilität von Kinderaussagen insbesondere bei familienrechtlichen Auseinandersetzungen, dem Problem der „verdrängten Erinnerungen“, und es wird auf die Möglichkeiten hingewiesen, den Einfluß falscher Informationen auf die Zeugenaussage zu minimieren.

Im Abschlußkapitel wird auf ausgewählte und kontroverse Aspekte der Aussagepsychologie eingegangen. Äußerst interessant ist hierbei die Diskussion um den „Lügendetektor“, genauer: um die Leistungen und Grenzen der psychophysiologischen Aussagebeurteilung.

Die Kerngruppe der Artikel gruppiert sich um theoretische und Anwendungsprobleme der Realkennzeichenanalyse. Die Realkennzeichenanalyse bildet - neben der Analyse der Zeugentüchtigkeit und der Motivanalyse - das Zentrum der Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Ihre theoretische Grundlage bildet die Undeutsch-Hypothese (Udo Undeutsch, 1967), wonach erlebnisbegründete Aussagen sich in ihrer Qualität von Aussagen unterscheiden, die nicht auf realen Erlebnissen basieren. Steller und Köhnken haben diese zunächst von U. Undeutsch und dann von F. Arntzen herausgearbeiteten inhaltsanalytischen Merkmale systematisiert und sie als Realkennzeichenanalyse (Criteria-Based-Content-Analysis) in die Fachliteratur eingeführt.

Diese Realkennzeichen bestehen u. a. in allgemeinen Merkmalen der Aussage wie logische Konsistenz, ungeordnete Darstellung und quantitativem Detailreichtum. Eine weitere Kategorie bilden spezielle Inhalte der Aussage wie raum-zeitliche Verknüpfungen der Ereignisse, Interaktionsschilderungen und Gesprächswiedergabe. Eine weitere wichtige Kategorie sind inhaltliche Besonderheiten der Aussage wie die Schilderung von ausgefallenen und nebensächlichen Einzelheiten und unverstandenen Ereignissen, die Schilderung eigener psychischer Vorgänge oder psychischer Vorgänge anderer Beteiligter. Neben deliktspezifischen Aussageinhalten sind schließlich motivationsbezogene Inhalte der Aussage wie etwa das Eingeständnis von Erinnerungslücken, Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage oder die Entlastung Dritter Elemente der Realkennzeichenanalyse (S. 106).

Hierbei steht nicht mehr die Glaubwürdigkeit der Person (allgemeine Glaubwürdigkeit), sondern die Glaubhaftigkeit der Aussage (spezielle Glaubwürdigkeit) im Zentrum. Durch das Abrücken von einem personalistischen Konzept wird der Tatsache Rechnung getragen, daß Personen nicht per se als notorische Lügner oder als besonders „wahrheitsliebend“ klassifiziert werden können, sondern ihre Aussage situationsspezifisch variieren kann.

In der Auseinandersetzung um den Einsatz der Polygraph-Untersuchungen (fälschlicherweise „Lügendetektor“ genannt) als diagnostisches Mittel stellen sowohl Undeutsch als auch Steller & Dahle klar, daß es hierbei nicht um eine Methode geht, die geeignet sei, aus einer Population den Lügner zu identifizieren, sondern daß es sich hierbei vielmehr um einen intraindividuellen Vergleich von unwillkürlichen Biosignalen handelt. Grob verkürzt geht es bei der Polygraph-Untersuchung darum, die in Vortests zunächst bei erwiesenermaßen wahren und gelogenen Sachverhaltsschilderungen entnommenen Biosignale, die von zusätzlich anderen Informationen wie Kontrollfragen oder Tatwissentests gestützt werden, mit jenen Biosignalen zu vergleichen, die bei dem fraglichen Sachverhalt geäußert werden. Die Ausgangshypothese hierbei bildet die Annahme, daß tatbezogene Fragen für Täter und Nicht-Täter einen unterschiedlichen Bedeutungsgehalt aufweisen; d. h., eine Person, die eine Frage wahrheitsgemäß verneinen kann, wird, so die Annahme der Autoren, weniger beunruhigt sein, als wenn dieselbe Person diese Frage bewußt wahrheitswidrig verneinen müßte (S. 312).

Das Buch ist unverzichtbare Lektüre für forensisch tätige Psychologen, aber auch für Richter, Polizei und Jugendamtsmitarbeiter, die mit Fällen von berichtetem sexuellen Mißbrauch konfrontiert werden, weil es u. a. sowohl auf Gefahrenquellen hinweist, die durch unsachgemäße Befragungen der Zeugen entstehen, zugleich aber auch eine Handhabe für die Beurteilung von vorliegenden Gutachten bietet. Von großer Hilfe ist das fast 30seitige Literaturverzeichnis, das umfassend über aktuelle wie historische Publikationen zu rechtspsychologischen Problemstellungen informiert.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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