Eine Rezension von Eberhard Fromm

Eine deutsche Kulturgeschichte: Was ist sie, und was kann sie leisten?

Hermann Glaser:

Deutsche Kultur 1945-2000

Carl Hanser Verlag, München/Wien 1997, 575 S.

 

„Es ist die wesentlichste Schwierigkeit der Kulturgeschichte, daß sie ein großes geistiges Kontinuum in einzelne scheinbar oft willkürliche Kategorien zerlegen muß, um es nur irgendwie zur Darstellung zu bringen“, schrieb Jakob Burckhardt einleitend zu seiner großen Kulturgeschichte der Renaissance in Italien. Und wie immer man auch zu den inhaltlichen und methodologischen Positionen des Schweizer Altmeisters der Kulturgeschichtsschreibung stehen mag, der die Kultur als Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes faßte, welche spontan geschehen, in diesem Punkt muß man ihm unumschränkt zustimmen. Je enger und genauer man sein Verständnis von Kultur faßt, um so überschaubarer wird diese Schwierigkeit. Und umgekehrt: Je weiter der eigene Kulturbegriff ist, desto größer werden die Schwierigkeiten.

Die ersten kulturgeschichtlichen Überlegungen reichen bis in die europäische Aufklärung. Bei Voltaire und Rousseau finden sich Bemühungen, dem Phänomen Kultur als bestimmendem Prozeß der Menschheitsentwicklung auf die Spur zu kommen. Johann Gottfried Herder untersuchte in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit die Entstehung der Kultur und verfolgte ihre Entwicklung bis zum 14. Jahrhundert. Von ihm stammt das Bekenntnis zur Humanität als dem Charakter des menschlichen Geschlechts: „Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Uebungen, unser Werth seyn ... Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unabläßig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Thierheit, zur Brutalität zurück.“

Kulturgeschichtliche Untersuchungen haben seit Ausgang des 19. Jahrhunderts stetig zugenommen. Dazu gehören verallgemeinernde geschichtsphilosophische Konzepte ebenso wie die konkrete Auswertung ethnologischer Forschungen; das sind kulturmorphologische und kultursoziologische Disziplinen; das sind nicht zuletzt vielfältige Darstellungen epochaler und nationaler Kulturgeschichten bis hin zu Analysen zu kulturellen Trends in einzelnen Regionen und Schichten. Dabei ist es nicht verwunderlich, wenn recht unterschiedliche Bestimmungen von Inhalt und Umfang einer Kulturgeschichte auftreten. Um so wichtiger wird es daher, daß die Positionsbestimmung - von Kultur und Kulturgeschichte - möglichst genau erfolgt. Denn auf der einen Seite kann eine zu enge Ansicht dazu führen, die Kulturgeschichte auf eine erweiterte Geistes-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte zu reduzieren; auf der anderen Seite befürchten manche Historiker, daß man alle Geschichte in Kulturgeschichte auflöst und jegliche Spezifik von politischer Geschichte, Wirtschaftsgeschichte usw. verschwindet.

Hermann Glaser, der mit einer dreibändigen Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989 bereits eine umfängliche und materialreiche Untersuchung zu diesem komplexen Gegenstand vorgelegt hat, wagt in seinem jüngsten Buch eine „Kulturgeschichte dreier Republiken‘“ (S. 11): der Bundesrepublik von 1949 bis 1989, der DDR und der neuen Bundesrepublik, wie sie sich seit 1990 präsentiert. Natürlich ist auch die Zwischenzeit von 1945 bis 1949 nicht ausgespart. Der Autor geht von der sympathischen Überzeugung aus, „daß das vereinte Deutschland weder als Fortführung des Weststaates in erweiterter Form noch als Auslöschung des ostdeutschen Staatsgebildes, sondern als etwas Neues begriffen werden sollte“. (S. 12) Ob dieses neue Deutschland tatsächlich im Entstehen ist, muß aber wohl erst die Zukunft zeigen: Kulturelle Prozesse vollziehen sich in langen Entwicklungen. Gegenwärtig spürt man wohl mehr die Tendenz einer „Fortführung des Weststaates in erweiterter Form“.

Im Vorwort skizziert der Autor knapp seine theoretischen Ausgangspositionen; zu knapp, meine ich angesichts der Problematik einer Kulturgeschichte mit einem so differenzierten Inhalt. Es wird von einem „weitgefaßten Kulturbegriff“ ausgegangen, wodurch man die „Wechselbeziehungen von Unter- und Überbau“ aufzeigen könne. (S. 13) Aber wie weit dieser Kulturbegriff tatsächlich reicht, bleibt offen, denn schon gleich anschließend wird der kulturgeschichtliche Ansatz als Analyse und Erzählung von „Entwicklungssträngen des geistigen Geschehens“ (S. 13) bestimmt. Wenn der weite Kulturbegriff des Autors die Entwicklungsstränge des „geistigen“ Geschehens umfaßt, dann bleibt fraglich, wie man die Wechselbeziehungen von Unter- und Überbau aufzeigen will. Man kann Glaser vorbehaltlos zustimmen, wenn er davon ausgeht, daß es sich in einer Kulturgeschichte „nicht um eine Wirtschafts-, Ideologie-, Gesellschafts- und Politikgeschichte, auch nicht um eine Kunst-, Literatur- oder Musikgeschichte handeln kann“ (S. 14). Wenn dann jedoch bei der positiven Bestimmung des Inhalts lediglich die Feststellung erfolgt, „Entwicklungs t e n d e n z e n stehen im Mittelpunkt“, und etwas schöngeistig formuliert wird, daß der Blick „auf kulturelle ,Landschaftsformationen‘, nicht auf einzelne Berge, Wälder, Täler gerichtet“ sei (S. 14), dann bleibt doch recht diffus, wo denn nun der eigentliche Gegenstand dieser Kulturgeschichte liegt. Daran mag es wohl auch liegen, daß die Darstellung der Kulturgeschichte Ostdeutschlands so schlecht wegkommt. Nach Glaser liegt das nicht an seinem Betrachtungsstandpunkt, sondern an der „grauen Monotonie“ und „deprimierenden Stagnation“ in der DDR. Wenn man sich auf - wie auch immer bestimmte - Entwicklungstendenzen konzentriert und für die Kultur in der DDR überhaupt in Frage stellt, ob man Entwicklungen konstatieren könne, dann ist klar, warum „den Phänomenen des Westens mehr Raum als denen des Ostens eingeräumt wird“. (S. 15)

Das Buch von Glaser ist unerhört materialreich. In vier großen Teilen werden „Die Trümmerzeit“, „Das geteilte Deutschland“, „Zeiten des Umbruchs“ und „Die deutsche Vereinigung“ abgehandelt. Mit vielen zeitgenössischen Belegen, bilderreich und durch eine interessante Gestaltung wird der Leser durch die letzten 55 Jahre deutscher Geschichte geführt. Dabei bildet die Zeit zwischen 1945 und 1949 einen erklärten Schwerpunkt, da in dieser Etappe nach Meinung des Autors die „deutsche Gemeinsamkeit“ noch besonders ausgeprägt gewesen sei. Von den letzten Tagen des Dritten Reiches bis zu einer detaillierten Darstellung der Neugestaltung des geistigkulturellen Lebens reicht die Palette des Materials, wobei hier über weite Strecken politische Geschichte geschrieben wird. Nicht immer kann man mit den ja doch als Orientierungspunkte wirkenden Kapitelüberschriften einverstanden sein. Wenn unter der „Wiedergewinnung der Demokratie“ die doch sehr unterschiedlichen Anfänge eines neuen politischen Lebens in West und Ost beschrieben werden, so ging es in der Realität in beiden Teilen Deutschlands nicht um einen Wiedergewinn der verlorenen (Weimarer) Demokratie; sondern in äußerst unterschiedlicher Weise wurden zwei für Deutschland neue Wege unter der Flagge der Demokratie eingeschlagen. Besonders problematisch erscheint auch der Titel „Die Rückkehr der Kultur“, wird durch diese Formel doch Kultur als ein System positiver Wertbereiche vermittelt, die NS-Zeit als kulturlos, die Kultur dieser Zeit als Unkultur gedeutet. Insgesamt ist die „Trümmerzeit“ wohl die am intensivsten durchgearbeitete Entwicklungsphase des ganzen Buches. Einen besonderen Ansatz entwickelt der Autor dabei für die Betrachtung Berlins unter dem Aspekt „Topos Berlin“. Für eine deutsche Kulturgeschichte des vergangenen halben Jahrhunderts wäre es sicher lohnenswert, diesen Ansatz einmal zu verfolgen und durch alle Entwicklungsabschnitte durchzuhalten: Das kulturelle Schicksal Berlins ist en miniature das kulturelle Schicksal Deutschlands.

Hermann Glaser ist um eine objektive Sicht auf die komplizierten Zeitverhältnisse der vierziger Jahre und auf die beiden unterschiedlichen Entwicklungslinien in Ost und West bemüht. Trotzdem findet man - meist im Kleingedruckten - einige Positionen, die zum Widerspruch herausfordern oder die man in ihrer verabsolutierenden Feststellung nicht stehen lassen möchte. Wenn er von der „moralischen Zwielichtigkeit“ (S. 46) und „Doppelmoral“ (S. 47) der Alliierten spricht; wenn behauptet wird, daß sich die Deutschen gegenüber den Alliierten als „folgsame, beflissene, fleißige, auch unterwürfige und opportunistische Mündel“ verhielten (S. 33); wenn mit Hinweis auf die das KZ Buchenwald befreienden Amerikaner davon gesprochen wird, daß die „roten Kapos“ als verlängerter Arm der KZ-Leitung für viele Brutalitäten verantwortlich gewesen seien (S. 53); wenn im Zusammenhang mit den Trümmerfrauen der Nachkriegsjahre auf die Gleichberechtigung der Frau in der DDR verwiesen wird, dabei zwar ein „gesteigertes Selbstwertgefühl“ der Frauen eingestanden, das aber zugleich als Folge von „Zwangsemanzipation“ und „Emanzipationsunterdrückung“ gesehen wird (S. 89) - dann sind das Wertungen und Aussagen, über die man nicht nur in einer Kulturgeschichte weiter streiten sollte.

Was die Darstellung der fünfziger Jahre („Das geteilte Deutschland“) betrifft, so hat Hermann Glaser hier eine treffende Analyse zitiert - man müsse die fünfziger Jahre als Epochenzäsur entdecken - und auch selbst von einem „kulturgeschichtlichen Umbruch“ gesprochen (S. 307 f.), doch seine eigene Konzeption trägt dem nicht genug Rechnung. Was da beschrieben wird, ist vor allem eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ als eine Art „großer Konsumverein“ mit „schrägem Geschmack“; daß in dieser Zeit ein exzellenter „Unterbau“ geschaffen wurde bzw. ein Experiment in der falschen Richtung begann, daß ein intensiver und widersprüchlicher Lernprozeß in Sachen Demokratie einsetzte, daß Amerikanisierung bzw. Russifizierung des kulturellen Lebens in sehr unterschiedlicher Wirkung einsetzten, daß und wie der weltweite Kalte Krieg die Kultur in beiden Teilen Deutschlands in spezifischer Weise beeinflußte - von diesen doch dominierenden Entwicklungen in den fünfziger Jahren erfährt der Leser m. E. zu wenig.

Überhaupt erscheint die Beschränkung auf die deutsche Kulturgeschichte in ihren zwei Entwicklungslinien zu stark von den internationalen Trends abgehoben, wenn nicht isoliert. Das trifft vor allem auf die beiden letzten Teile des Buches zu („Zeiten des Umbruchs“, „Die deutsche Wiedervereinigung“). Die welthistorisch bedeutsamen Prozesse wie die wissenschaftlich-technische Revolution, die modernen Völkerwanderungen - mit ihrer direkten Wirkung in Deutschland -, die Veränderung und Beendigung des Kalten Krieges, der Zerfall eines gewaltigen Weltsystems in wenigen Jahren, die Aktivitäten um ein einiges Europa usw. werden höchstens als Stichwort benutzt, nicht aber zum konzeptionell bedeutsamen Element erhoben. So erscheint dann zeitweilig die deutsche Kulturentwicklung als provinzielle Eigenwelt. Und das war sie ja nun wahrlich nicht. Natürlich ging es dem Autor um die Kulturgeschichte eines - zweigeteilten - Landes in einem bestimmten Zeitabschnitt. Aber die Dynamik der Entwicklung in der Welt, die Konflikte im politischen Bereich und ihre Wirkungen auf das gesamte geistige Leben hätten auch unter dieser eingeengten Zielstellung einen höheren Stellenwert verdient.

Was an der Kulturgeschichte von Glaser besticht, ist die Breite und Vielfalt der Belege, der Zitate, der Meinungsäußerungen und Einschätzungen anderer; was man ein wenig vermißt, ist die eigene Ausdeutung. Solche Wertungen wie „Die Protestbewegung ging über in einen narzißtisch orientierten Selbstverwirklichungskult, der schließlich in postmoderner Beliebigkeit endete“ (S. 369) sind wenig aussagekräftig. Insgesamt aber ist der Versuch dieser Kulturgeschichte nur zu begrüßen, denn nur durch die Herausforderung, die solche komplexe Untersuchungen darstellen, kommt es vielleicht zu neuen, auch anders konzipierten Arbeiten. Denn über Vielfalt und Reichtum auf dem Gebiet der modernen deutschen Kulturgeschichte kann der Leser leider nicht klagen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite