Eine Rezension von Björn Berg
Freuden und Flüche Barbara Bongartz:
Örtliche Leidenschaften - Compilationes
Druckhaus Galrev, Berlin 1997, 814 S.
Wann wurde der Tod des Romans erstmals angekündigt? Wie oft wurde der Roman totgesagt? Vor und nach Joyce, Musil, Dos Passos, Bellow? Der Totgesagte triumphiert! Aufgedonnert als Trivialroman. Geschminkt als Thriller. Der Zwitter aus Dirne und Macho schmeißt sich den Lesern an den Hals. Die Leser halten nicht mit Anstand Abstand. Die Liaison der Leichtsinnigen hat Saison. Sich dagegen wehren? Das ganze Gesindel und Geseire wegschwemmen? Mit einer Sätze-Sintflut, die Ufer Ufer sein läßt? Wer macht dann den Noah und zimmert die Arche? Denn anders geht die Geschichte nicht, weil keine Geschichte weitergeht, wenn die Arche fehlt.
Sintflut und Arche ist das Buch Örtliche Leidenschaften - Compilationes von Barbara Bongartz. Ein unmodischer moderner Roman der Post-Moderne. Das ist, bitte, was? Na, öffentliche Leidenschaft! Ein Collage-Roman der nicht unbekannten Collage-Art. Anmerkungen essen zwar nicht die Seele der Sache auf, knabbern aber kräftig am Hauptstück. Die gesamte Kunstkonstruktion ist mit einem Blick zu überschauen. Nicht aber das wohlgeordnete Chaos der möglicherweise unchaotischen Verästelungen. Wer nicht weit ins Buch vordringt, muß nicht an sich zweifeln und schon gar nicht verzweifeln. Vor Bongartz Buch muß gewarnt werden. Wagemut ist erforderlich, will man sich auf das über achthundertseitige Konvolut einlassen. Wers tatsächlich tut, sollte zumindest starke Sehnerven haben. Fernsehgetrübte Augen sind aufgeschmissen. Selbst eine Kaufhausbrille wird ihnen keine ausreichende Hilfe sein.
Die Schriftstellerin ist eine gewiefte (auch geschickte?) literarische Gauklerin. Mit einer Serie von Vor-Sätzen zu den Compilationes, im folgenden Nachtstücke genannt, suggeriert die Verfasserin den Lesern, seit Jahren, Jahrzehnten etwas versäumt zu haben. Die vorliegende Ausgabe der Örtlichen Leidenschaften ist als vierte, erweiterte, überarbeitete Auflage ausgewiesen. Betroffen und betreten müssen Leser und Literaturkritik bekennen, ein fundamentales Werk der modernen Literatur verschlafen zu haben. Peinlich, peinlich, peinlich? Oder? Gabs für das kollektiv-totale Versagen gegenüber dem Epos objektive Gründe? Hat die völlige Abweichung von Norm, guter Sitte und Moral des als Zeugnisse der Perversität, der Hysterie, des Schmutzes geouteten Schriftwerks die nationale wie internationale Verbreitung verhindert? Äußerungen von RMS, der Gefühlswissenschaftlerin Prof. Dr. Renata Marie von Senftleben und Ur-Autorin der vermeintlichen Sudel-Schrift, lassen das vermuten. Auch Überlegungen der Dr. Bongartz, die sich ein Vierteljahrhundert nach der Erstveröffentlichung, fünf Jahre nach dem Tode von RMS, ins Zeug legte, das Lebenswerk der Wissenschaftlerin erneut unter die Leute zu bringen. Barbara Bongarz ist sicher, daß die noch 1965 als gefährlich eingestufte Sammlung heute der mit allen perversen Entwicklungen gewachsenen Menschheit zuzutrauen ist. Jetzt muß die Stunde der Schandstücke menschlicher Emotionalität gekommen sein!
Komplize der Bongarz ist das von Lyrikobsessionen zerfressene Berliner Druckhaus Galrev. In dem genießt Bongartz einen Bonus, seit sie sich dort anno 1994 mit dem bezeichnenden Erzählband Das Böse möglicherweise lieb Kind machte. Galrev in den Veröffentlichungsstrudel zu reißen heißt, ganz auf die Kraft der zwei Herzen zu vertrauen. Wer sich nun den Tort, also die Schmier-Schrift, antut, muß damit rechnen, in sämtliche Untiefen und Wüsten zu geraten. Untiefen, die noch untiefer, Wüsten, die noch wüster sind, als bislang bekannte. Örtliche Leidenschaften ist wahrlich kein leicht verdauliches literarisches Schmankerl. Selbst wer sich nach Seite 100 nicht in seine Heim-Garten-Idylle zurückzieht, wer sich tapfer durch den Text-Dschungel schlägt, wird für seine Treue nicht belohnt. Auf Seite 736 werden allen Ausdauernden die Sätze um die Ohren gehauen: Wer wurde je von einem Buch verführt? Welches Buch ist je zu etwas gut gewesen? Alles nur Scheißkram? Alles nur Scheißbücher? Das Ganze eine einzige Scheißschreiberei? Barbara Bongartz hat den ganzen Scheiß angerührt. So und/oder so! Zum Glück ist sie dabei nicht vor die Hunde gegangen wie die Genannten, Rimbaud, Kafka und Barnes, wie tausend Ungenannte.
Bongartz hat sich eine zeitgemäße, zeitnahe Voyage imaginär geschrieben. Wie schon andere Scheißschreiber: Von Lukian über Rabelais und Swift bis Irmtraud Morgner. Die wundersame Reise führt durch die katastrophale Zivilisationskultur des Jahrhunderts. Weiblich besichtigt und gesichtet. Über Stock und Stein gehts, rein und raus aus sämtlichen Sackgassen der westeuropäischen und amerikanischen Regionen und Lebensformennormen. Auf die allemal unbequeme Reise kann nur neugierig gemacht werden. Der stillen und lauten Freuden und Flüche wegen. Jeder Ort fordert ... örtliche Leidenschaften, ist zu lesen. Örtliche Leidenschaften ist so ein Ort. Leidenschaftlich. Wie das Buch. Das kein Retter des Romans ist. Aber eine Ehrenrettung. Auch. Basta!