Eine Rezension von Bernd Heimberger
Neue Nachdenklichkeit
Lutz Rathenow:
Jahrhundert der Blicke
Verlag Landpresse, Weilerswist 1997, 48 S.
Erst, wenn ich mich lese / bin ich ..., sagt ein dichtender Deutscher. Ist einer ein Dichter, wenn er sich liest? Ist einer ein Dichter, der gelesen wird? Wer ist ein Dichter in Deutschland? Was immer deutsche Dichter derzeit dichten, Ruf und Ruhm der Dichter in Deutschland sind dürftig. Wer dennoch dichtet, ist auf sein Selbstvertrauen angewiesen. Das Lutz Rathenow hat? Aus seinem jüngsten Gedichtband - Jahrhundert der Blicke - stammt das Zitat. Ist Rathenow sich seiner sicher? Nie war sich Rathenow seiner so unsicher. Nie zuvor hat er seine Unsicherheit so stark spüren lassen.
Gedichte, wie er sie in der DDR schrieb, die Kassiber seiner kritischen Gedanken waren, muß er nicht mehr schreiben. Muß er noch Gedichte schreiben? Die neue Veröffentlichung und Unveröffentlichtes gelesen, offenbart sich die fortdauernde Abhängigkeit und Anhänglichkeit zur DDR. Das DDR-Bürgersein ist zum Bonus für Lutz Rathenow geworden. Wie so für keinen anderen Schriftsteller. Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Rathenow den Bonus nutzen können. Ahnt der Autor, daß damit nun Schluß ist? Daß damit endlich Schluß sein muß? Kann Schluß sein, solange den Schriftsteller jeder Blick nach vorn dazu zwingt, zwei Blicke zurück zu tun? Ist Rathenows literarische Zukunft nicht in seiner biographischen Vergangenheit? Das ist zu bedenken. Das macht die Nachdenklichkeit der Texte in Jahrhundert der Blicke aus. Die neue Nachdenklichkeit des Verfassers mindert das Vergnügliche, das in früheren satirischen, spitzen, sinnigen Versen war. Abendlichtig, abschiedsgestimmt ist manches beim Autor - der nicht in Deutschland ankommt?
Lutz Rathenow läßt die Welt wissen, daß er keine Gedichte mehr schreiben will. Geht das so erklärtermaßen? Offensichtlich nicht: Ist ein Dichter ein Dichter ... bis ans Lebensende? Ist Lutz Rathenow ein Dichter? Hat er Gedichte geschrieben? Er hat genug als Gedichte deklarierte Texte veröffentlicht. Gelegenheitsgedichte, wie Rathenow sagt. Gebrauchslyrik, wie Kästner sagte. Gedichtetes also. Auch-Gedichte. Auch Gedichte? Auch Gedichte! Die nicht reichen, um den Mittvierziger in die erste Reihe großer deutscher Dichter zu nehmen. Warum nicht? Weil die Gedichte zu wenig Gedichte sind? Was ist ein Gedicht? Ist das verdichtete Denken keine Dichtung? Ist nur der bildgewordene Gedanke ein lyrischer? Ist nur der Dichter, der das Bekannte in unbekannten Bildern ausdrückt? Lutz Rathenow hat zu viele Gedanken für zu wenig unbekannte Bilder. Einen Vergleich mit Hölderlin, Rilke, Celan hält er nicht aus.
Gedichte von Rathenow sind meist Gedankengerüste, die das Lyrische verdecken. Wo das Sinnreiche den Sinn machen muß, ist für das Sinnliche nicht genug Spielraum. Wo der Aphorismus zugespitzt oder aufgebauscht wird, ist der Aphorismus eine Rakete, die nicht zündet.
Lyrische Formen machen keine Lyrik. Nicht mal lyrische Prosa. Möglicherweise Prosa in lyrischer Form. Die so charakteristisch für die Lyrik des Lutz Rathenow ist. Gedanken, denen Gedanken folgen, die eine Assoziationskette ermöglichen, bestimmen Gehalt und Gestalt seiner Dichtungen. Der vom Gewissen getriebene Autor geht in seiner auffordernden, aufmunternden Art auf Leser und Zuhörer zu. Alle will er für sich einnehmen. Mit dem redlichen Angebot, etwas für die Entwirrung statt die Verwirrung von Gedanken zu tun. Das ist eher ein prosaisches denn poetisches Programm. Wenn, dann ist die Poetologie des Lutz Rathenow prosaischer Natur! Das weiß er, der sich selbstkritisch die Verszeilen zuschreibt: Schon wieder / Gedichte / Muß das sein / Muß ich schrein / Mediengerichte / Virtueller Flieder / Ersatz für Geschichte / Vorwiegend bieder.