Eine Rezension von Horst Möller
... alles ist im Fluß
Kostas Murselas:
ihr rotgefärbtes Haar
Roman.
Aus dem Griechischen von Maria Petersen und Nina Bungarten.
Romiosini Verlag, Köln 1997, 519 S.
Da steht einer in der Mitte des Lebens und hat eigentlich seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Weshalb ödet ihn auf einmal die Welt dermaßen an, daß er Frau und Heim verläßt, sich in die Arme der einst verschmähten Jugendgeliebten wirft, um danach alles zerronnen und nichts gewonnen zu sehen? Dein Leben hat weder Anfang noch Ende, es stagniert nie, es hört nichts auf, alles ist im Fluß heißt es in ihr rotgefärbtes Haar von Kostas Murselas. Natürlich ist unserem griechischen, aus Piräus stammenden Stefan Heym vom Jahrgang 1931 das panta rhei des Heraklit (um 550-480 v. u. Z.) wohlvertraut. Schon der Verkünder dieses Urwortes ging davon aus, daß die meisten Menschen über solche Dinge, auf die sie täglich stoßen, nicht nachdenken. Und eben davon, daß die meisten eine Art Traumtänzer sind, die weder denkend noch handelnd jemals der Wirklichkeit gerecht werden, ist hier die Rede. Aber im scharfen Gegensatz zum vorsokratischen Denker, dem nichts mehr verpönt war, als sich kommun zu machen, hat Kostas Murselas einen Reißer geschrieben (sein griechischer Titel: vammena kokkina mallia, Kedros Verlag, Athen 1989), der inzwischen in der 39. Auflage vorliegt, vom staatlichen griechischen Fernsehen verfilmt und bereits ins Englische übersetzt wurde. Dem alten Heraklit, der sogar Hesiods Werke und Tage und Homers Ilias und Odyssee der Trivialliteratur zuordnete, hätte er vermutlich als Politporno gegolten.
Es läßt sich nicht behaupten, daß es in diesem Werkchen besonders wohlanständig zuginge. In einer Hafenstadt wie Piräus, wo das Ganze spielt, wird nun mal kreuz und quer gesegelt. Zudem sind die 50er/60er Jahre nach Krieg, Besatzung und Bürgerkrieg keine besonders feine Zeit für Griechenland gewesen. Wem sich da die Chance bot, seinen amerikanischen Traum beispielsweise durch eine vorteilhafte Heirat zu verwirklichen, der arrangierte sich, wie es der Ich-Erzähler von sich berichtet. Bei seiner Lebensbeichte gerät ihm unversehens ein Widerpart zum anderen, besseren Ich. Schon in der Schule hatte jener damals - völlig spontan und einfach, weil es ihm gegen den Strich ging - als einziger den leeren Zettel zerrissen, als gefordert worden war, aus dem eigenen Familien- und Bekanntenkreis die Namen angeblicher Regimegegner aufzuschreiben. Diese Widerborstigkeit bescherte Folgen: Später verweigerte die Behörde den Schein, der es ihm erlaubt hätte, Seemann zu werden. Trotzdem - oder vielleicht auch gerade deshalb - gingen bei ihm die Wogen hoch und runter. Er lebte in vollen Zügen aus, was andere sonst nur zu träumen wagten, er folgte seinen fixen Ideen und paßte sich höchstens an, um halbwegs über die Runden zu kommen. So machte es ihm nichts aus, sich auf eine pummelige Bäckerstochter zu stürzen, doch die erzwungene Hochzeit ließ er ausfallen. Ein hartnäckiger Mensch heißt er deshalb und weiter - man lese und staune: Der reinste Lenin. Der hatte sich vorgenommen, Rußland zum Kommunismus zu führen, und das tat er dann auch. Er hätte es nicht überlebt, wenn er es nicht geschafft hätte. Die Muschiken, die Proletarier und die Revolutionäre hätten vielleicht auch ohne Revolution überleben können, doch Lenin nicht. Wie gesagt, es dreht sich um ein Schlitzohr, das ausbüxt, um dem drohenden Ehejoch zu entfleuchen. Was für ein irrer Vergleich mit dem Weltveränderer! Doch im Grunde genommen ist ja lediglich gemeint, daß der Hafen von Piräus zwar kein Liegeplatz des Kreuzers Aurora, dafür aber noch immer das Zuhause gewieftester Muschiks gewesen ist.
Daß an den blauweißen Gestaden der Ägäis so ganz nebenbei die Zeiten gelegentlich äußerst rabiat verlaufen sind, liest sich bei Kostas Murselas, als wäre das wer weiß wie lange her. Im Anhang seines Buches kommt er auch nicht gänzlich ohne geschichtliche Erläuterungen aus. Für den hiesigen Leser sind das entschieden zu wenige Anmerkungen, was sich jedoch verschmerzen läßt. Sowohl die Kaskaden von scheinbar aleatorisch zusammengemischten Episoden als auch der explosive Sound, in dem mit drastischem Vokabular erzählt wird, erweisen überdeutlich: Mögen diese alten Zeiten noch so fern entschwunden sein, letztlich bleibt der Menschennatur gemäß alles weiter unaufhaltsam im Fluß.