Eine Rezension von Helmut Hirsch
Private und öffentliche Miseren
Walter Hasenclever:
Ich hänge, leider, noch am Leben
Briefwechsel mit dem Bruder.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Bert Kasties.
Wallstein Verlag, Göttingen 1997, 142 S.
Der am 8. Juli 1890 in Aachen geborene Walter Hasenclever sorgte mit seinem Stück Der Sohn 1914 für Furore. Man verglich den spätexpressionistischen Dichter mit dem jungen Schiller. Sein Sohn traf den Nerv der Zeit: Aufruf der jungen Generation zur radikalen Veränderung der Verhältnisse, privat und öffentlich. Daß der Dichter ein gehörig Maß an familiärer Problematik darin verarbeitet hatte, wurde erst später, in den dreißiger Jahren, durch den autobiographischen Roman Irrtum und Leidenschaft bekannt. Da war die völlig emotionslose Beziehung zur Mutter, schlimmer noch der tyrannische Vater. Der verbot den nachgeborenen Geschwistern jeglichen Umgang mit Walter Hasenclever. Kein Wunder, daß der die Familie hinter sich ließ, erst viele Jahre später den Kontakt zu seinen Geschwistern herzustellen vermochte. Der Briefwechsel mit dem Bruder Paul (geboren 1897) wird in dieser Ausgabe des Göttinger Wallstein Verlags zum erstenmal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Es herrscht in diesen Briefen ein offener Ton, wechselnd zwischen privaten und öffentlichen Miseren, teilen sich die Brüder alles mit, was sie erfreut, aber auch betrübt. Wie ein roter Faden zieht sich die Geldmisere, die Walter weit mehr als Paul betraf, durch die Korrespondenz. Mit allerlei pfiffigen Tricks kämpfen sie um ihr Erbe aus dem verhaßten Elternhaus. Das Bild des mürrischen Vaters, der am Geld-Hahn sitzt, verfolgt beide und gibt dennoch Anlaß zu sarkastischen Kommentaren. Walter am 26. Januar 1919 aus dem erzgebirgischen Oberbärenburg an Paul: Ich finde es unverantwortlich vom Alten, seine Kinder aus Faulheit und Intoleranz hängen zu lassen ... Ich bereue gar nichts und vor allem nicht, daß ich mein Stück gegen ihn geschrieben habe! Da hilft kein Sentiment: er ist in seiner Dummheit verbrecherisch. Das ist der Ton der expressionistischen Söhne, scharf von der Krone bis zur Wurzel. 1921 schreibt Walter an Paul: Mache Dir klar, daß die Alten zahlen müssen, jetzt und später! Wir werden immer Mittel und Wege finden, durch Gutachten vor Gericht zu beweisen, daß Du schlimmstenfalls ,erwerbsunfähig bist.
Ökonomische Gefechte über Jahre hin, dazwischen künstlerische und politische Hoch- und Tiefstunden. Walter, zeitweilig begeistert den politischen Linken anhängend, wirkt im Brief vom 2. November 1918 fast wie ein Rufer gegen den Zeitgeist: Wir stehn, was nach der Dummheit und dem Dünkel des Volkes nicht zu vermeiden ist, vor einem wirklich viel gräßlicheren Kriege: der Revolution ... Seit 4 Wochen dämmert die Wahrheit im Volke hoch, daß wir nicht überfallen sind, sondern überfallen haben, daß wir von gewissenlosen Schweinen, denen wir, rettungslose Arschkriecher, die Macht überantwortet haben.
Paul, der keinen Linksruck in seiner Biographie vorzuweisen hat, arbeitete für das Theater, schrieb Noten, war aber als Komponist auch nicht sonderlich erfolgreich. Die Briefe dokumentieren, wie sich beide liebevoll um das gegenseitige Weh und Vorankommen kümmern. Walter rät Paul einmal kategorisch zur Trennung vom Theater, das mit dessen Vertonungen leichtfertig oberflächlich umging. Walter schreibt: Es lag mir nur daran, Dir mit brutaler Offenheit den Betrieb des Theaters auseinanderzusetzen, der wohl für einen schaffenden Künstler das traurigste Erlebnis ist, das ihm im Laufe der Jahre blühen kann. Aber leicht gerät der Mensch von der einen in eine andere Misere. Der erfolglose Komponist Paul Hasenclever arbeitet später in verschiedenen Verlagen, dort zumeist als eine Art Alleskönner. Kein Grund zur Freude, einst und heute. Walter macht sich gelegentlich darüber lustig. Vielleicht lebt es sich auch für einen deutschsprachigen Dramatiker im Süden doch leichter, wenn man dem im Norden schuftenden Bruder mitteilen kann: Du hast in bewundernswerter Weise seit vielen Jahren die Berufsknechtschaft auf Dich genommen, ohne große Worte, mit einer Selbstverständlichkeit und Charakterstärke, um die ich Dich beneide! Wie überhaupt: Deine Art zu leben, Deine Familie, Dein unpathetischer Kunstwille, Deine klare Willensrichtung sind etwas Außerordentliches.
Die Ironie Walters hat außer versteckter Wertschätzung auch Gründe im seltsam verwurschtelten Theaterbetrieb der Zeit. Er hat Sorgen, seine Stücke werden nicht immer ein Erfolg. Und so zieht er schnell einmal über eine Spezies am deutschen Theater her, die auch heute unverändert ihr närrisches Spiel auf die Bühnen transportiert. Anfang 1927 schreibt Walter an Paul: Ich kann Dir nur sagen, die Frankfurter Tage, an denen ich die Katastrophe hilflos hereinbrechen sah, waren die Hölle. Wenn nicht endlich dafür gesorgt wird, daß die Regisseure in Deutschland wieder das Werk des Schriftstellers achten, dann ist kein Mensch mehr sicher, daß im Handumdrehen aus einer Tragödie eine Revue wird, wobei dann die Presse dem Regisseur bauchwedelnd testiert, wie sehr er einem schwachen Werk durch seine geniale Interpretation zum Leben verholfen habe.
Was zu Beginn der dreißiger Jahre in Deutschland geschieht, läßt den unentwegt herumreisenden Walter Hasenclever nicht kalt. Mit dem Verleger Kurt Wolff ist er im Herbst 1932 in Marokko, auf einer Karte schreibt er an Bruder Paul: Ich fahre in Wolffs Auto durch 1001 Nacht. Am merkwürdigsten sind die Juden - wie im Alten Testament. Noch reines Ghetto. Eine großartige Welt. Ich habe in der Synagoge für Deutschland gebetet und umarme Euch alle von Herzen ...
Widerstand kann man es vielleicht nicht nennen. Doch was Bruder Paul in Westerland auf Sylt mit dem Gewerkschaftschor übt, ist doch ein kleines Lehr-Stück dafür, was möglich war. Möglich aber auch, daß auf Sylt alles etwas anders war. Paul schreibt an Walter am 6. Mai 1933 (es ist zugleich der längste, der ausführlichste Brief des ganzen Bandes): Beweist man also Kühnheit, und mißbraucht man die daraus resultierende Achtung nicht, so ist man seines Lebens hier völlig sicher, besonders wenn man auf dieses Leben ohnehin nicht viel gibt. Wer aber feige und gesinnungslos ist, ja wer sich sogar, obwohl gar nicht mal aufgefordert geschweige denn gezwungen zur Gleichschaltung geradezu anbietet, der hat es sich selber zuzuschreiben, wenn sich die dementsprechende Verachtung auch hier vielleicht mal physisch kundgeben mag.
Die Narrenfreiheit mit dem Chor auf Sylt geht allerdings nur wenige Monate, danach verbieten die Nationalsozialisten ihm diese freimütige Tätigkeit. Sicher war es eine Insel-Idylle, wo Männer und Frauen einen Zirkel bildeten, der kurzzeitig nicht nur Nordseewellen mit standhafter Begeisterung abgleiten ließ.
Walter, 1933 in Nizza weilend, zeigt sich in dieser Situation erfreut und zugleich spröde zurückhaltend. Auf Pauls großartigen Brief, der mich zu Tränen gerührt hat, antwortend, lobt er emphatisch die Zeitanalyse des Bruders: Dein Brief ist das tiefste und würdigste Dokument, das ich in meinem Leben erhalten habe. Doch sein nächster Satz verrät Bedachtsamkeit, wohl schon Angst: Ich habe im Ausland kein Recht, eine Meinung zu äußern.
Daß auch diese Vorsicht fern von Deutschland nicht immer Schutz bot, zeigte sich 1938. Hitler weilt in Italien bei Mussolini, da wird Walter Hasenclever am Strand von Marina di Massa in der nördlichen Toskana verhaftet. Die italienischen Behörden hatten ihn, seitdem er in der Toskana ansässig geworden war, auf eine Liste gesetzt, die 500 potentiell gefährlich eingestufte Emigranten umfaßte.
Verschlüsselte, metaphorische Notizen zur Zeit begleiten den Briefwechsel bis in die späten dreißiger Jahre. So antwortet Paul auf die Mitteilung von der zeitweiligen Inhaftierung mit einem Hinweis auf den Märchendichter Hans Christian Andersen, schreibt von einem Maulwurf, der bei einem anderen zu Besuch war, eine Feldmaus hat einsperren lassen, vor der er sich aus unerfindlichen Gründen ebenso fürchtet, wie sie sich vor ihm.
Dieses kleine Bändchen ist eine schöne Entdeckung. Zwei Brüder, der eine einst eine Berühmtheit, korrespondieren über alles, was ihnen zwischen den beiden Weltkriegen passiert. Es ist ein Buch der Überraschungen, der Pointen, der liebevollen Zuneigung. Zwei unterschiedliche Temperamente begegnen sich aus der Ferne ganz nah. Sie wechseln pornographische Lieder, zeigen sich komisch-ironisch, wenn Geldsorgen überhandnehmen, Politik ihnen zu nahekommt. Es gibt viele plötzliche Vorlieben, sei es das Interesse an antiker Geschichte, später die Lust an geistreichen Zitaten von Marx und Engels, um den Bruder in der Fremde zu unterhalten. Dann die große Zäsur: Im Sommer 1939 der letzte Brief von Walter an Paul.
Das Nachwort des Herausgebers, gründlich und verständnisvoll, beginnt mit der lapidaren Mitteilung, daß Walter Hasenclever im August 1940 seinem Leben ein Ende setzte. Die deutsche Presse dieser Zeit schrieb hämische Zeilen über den Vertreter des deutschen Spätexpressionismus. Er wecke Erinnerungen an die schlimmsten Zeiten des literarischen Nachkriegsexpressionismus, und der Dichter habe während dieser Zeit seinen Teil zu einer völligen Überfremdung des deutschen Theaters beigetragen.
Immer sind es Steine, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Mit dieser Ausgabe wird der Blick wieder frei für problematische Lebenslinien, die in Briefen festgehalten wurden. Das Leben zweier Brüder, zweier Temperamente. Von Paul Hasenclever bleibt noch zu sagen, hier mit den Worten des Herausgebers: Paul Hasenclever, der auch nach 1945 seine bereits in den späten 20er Jahren aufgenommene, sehr zurückgezogene Lebensweise weiterführt, stirbt 1988 im Alter von 91 Jahren in Westerland.