Eine Rezension von Klaus Ziermann

Eigenkommentierung eines großen künstlerischen Lebenswerks

Günter Grass. Der Autor als fragwürdiger Zeuge

Herausgegeben von Daniela Hermes.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, 349 S.

 

Daniela Hermes hat gut daran getan, keine programmatische Einleitung und auch kein grundlegendes Nachwort über Günter Grass’ künstlerische Entwicklung verfaßt, sondern lediglich einen kurzen bibliographischen Nachweis der Texte geschrieben und ein Personenregister zusammengestellt zu haben. Der weltberühmte Verfasser der Blechtrommel ist Manns genug, die einzelnen Etappen seiner schriftstellerischen Laufbahn und Motive seiner künstlerischen Arbeiten selber subtil wie kein anderer zu charakterisieren, und wie es sich für einen ausgemachten politischen Autoren ziemt, hat er seit Mitte der fünfziger Jahre kaum eine Gelegenheit ausgelassen, sich als „fragwürdiger Zeuge“ seiner Zeit öffentlich den brisantesten Fragen zu stellen.

Es beginnt mit einer originellen Interpretation und einem Abdruck seines Gedichts „Die Vorzüge der Windhühner“ aus dem Jahre 1955, geht über seine 1960er Antwort zum Thema „Wir schreiben in der Bundesrepublik“ für die Zeitschrift „konkret“, das Nachdenken über „Die Zukunft der Stückeschreiber“ im Sonderheft 1969 von „Theater heute“ und die Rede „Literatur und Politik“ mit 10 Arbeitspunkten und der Frage gegen Schluß, warum er als Schriftsteller, der eigentlich genug verdiene, sich so zeitraubend für Politik interessiere? Seine Antwort, „bürgerlich egoistisch“, aber typisch Grass: „Damit ich weiter schreiben darf, was ich schreiben muß.“ (S. 81)

Später folgen dann Beiträge wie „Rückblick auf die Blechtrommel“ oder „Der Autor als fragwürdiger Zeuge. Ein Versuch in eigener Sache“ vom Dezember 1973, das Nachdenken „Bin ich nun Schreiber oder Zeichner?“ aus dem Katalog einer Grass-Ausstellung 1979 in Stockholm, die Laudatio „Unter Hans Werner Richters Fuchtel“ zum 80. Geburtstag des Oberhauptes der Gruppe 47, „Schreiben nach Auschwitz“ - die im Februar 1990 gehaltene Poetik-Vorlesung an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, der im Sommer gleichen Jahres geschriebene kurze „Brief aus Altdöbern“, einer nicht gerade blühenden Wendelandschaft im Osten der ehemaligen DDR, die brandaktuelle Rede „Vom Überspringen der Grenzen“ zur Verleihung des Ehrendoktortitels der Universität Gdansk am 26. Mai 1993, das im Februar 1997 mit Volker Neuhaus geführte Gespräch „Das konstante Gefühl, zufällig überlebt zu haben,“ und der „Berliner Appell“ - die Begrüßungsrede anläßlich der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises am 24. April 1997 in der Akademie der Künste Berlin. Das sind lediglich „dreizehn“ ...? von insgesamt dreiundfünfzig ausgewählten Gedichten, Reden, Essays, Annotationen und Interviews, in denen - so das Anliegen von Herausgeberin und Verlag - „Günter Grass von sich selbst erzählt und Einblick in seine künstlerische und literarische Werkstatt gewährt“. Bis auf seine jüngste Unterschrift unter die „Erfurter Erklärung“ wird sehr viel Wesentliches aus persönlicher Sicht kommentiert.

Der Leser dieser dtv-Ausgabe sollte sich trotzdem Zeit lassen, wenn er das Buch zur Hand nimmt. Es ist schon ein Genuß, wie Günter Grass immer wieder durch die Originalität seiner Denkansätze besticht, wie er zum gedanklichen Nachvollziehen von Entstehungsprozessen, Motivationen oder Bildern aus seinen bekannten Kunstwerken - etwa Die Rättin - einlädt, bei der Interpretation weltpolitischer Entscheidungen oder kultureller Ereignisse die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen weiß, wie er die diffizilsten Fragen der Kunst souverän und plausibel darzustellen vermag. Er braucht die Besonderheiten seines schriftstellerischen Engagements - von dem er an einer Stelle sagt: „Auch das Nachdenken über Deutschland ist Teil meiner literarischen Arbeit“ (S. 221) - nicht ausführlicher zu begründen: Die seit reichlich vier Jahrzehnten „anhaltende Unruhe“ seiner streitbaren Mitverantwortlichkeit für menschlichen Fortschritt ist in diesem wohl persönlichsten aller Grass-Bücher von Seite zu Seite zu spüren, und sie wirkt in wohlgeformter Sprache wie ein Anreiz zum Mitdenken.

„Ich glaube, daß sich meine Arbeitsdisziplin insgesamt an der bildhauerischen Arbeit entwickelt hat - bis hin zur Gewohnheit, im Stehen zu schreiben. Ich kenne Schriftstellerkollegen, die arbeiten solange an einer Seite, bis sie fertig sind, und dann kommt die nächste Seite. Das ist bei mir nie der Fall gewesen. Ich schreibe in mehreren Fassungen, das heißt, immer ist der ganze Komplex in Fluß und in der Arbeit“, heißt es in „Die Disziplin wechseln, beim Gegenstand bleiben“ - einem Gespräch Günter Grass’ mit Bernhild Boie. „Dazu brauche ich diese Schemata und immer wieder neue Entwürfe, die jeweils nach einer gewissen Zeit, und manchmal sofort schon, wieder hinfällig sind, weil sich das Ganze insgesamt verändert, verschoben hat.

B. B.: Aber Sie entwerfen einen Roman als eine Masse, ein Volumen.

G. G.: Ja, als einen ethischen Körper.

B. B.: Und die genaue Datierung, die Präzision in der Projektierung der zukünftigen Arbeit?

G. G.: Das liegt sicherlich auch daran, daß jemand wie ich, im freien Beruf, sich seine Termine und Aufgaben selber stellt. Ich bin das von Jugend an, von meinen frühesten Anfängen an gewohnt, und ich lege auch Wert darauf, diese Arbeitspläne, was das Arbeitsvolumen betrifft, zu erfüllen. Man muß sich ja im freien Beruf, wenn man keine von außen vorgegebene, geregelte Arbeitszeit hat, selbst motivieren, man muß sich wie Münchhausen, der in den Sumpf fällt mit seinem Pferd, an den eigenen Haaren aus dem Sumpf herausziehen und das Pferd mitherausziehen dabei. Dafür sind mir im Verlaufe der Arbeitspraxis einige Hilfsmittel eingefallen ...

Laden derartige Texte nicht geradezu zum Weiterlesen und geistigen Mitmachen ein? In Günter Grass. Der Autor als fragwürdiger Zeuge gibt es - dank der klugen Auswahl von Daniela Hermes - viele, sehr viele solcher Stellen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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