Eine Rezension von Tina Kreuzmann
Der Wahnsinn einer Ära
Hermann und Kate Field:
Departure Delayed - Stalins Geisel im Kalten Krieg
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997, 567 S.
Fast 50 Jahre nach seiner Verhaftung hat sich der amerikanische Architekt Hermann Field entschlossen, mit seiner Geschichte - einer Geschichte des Kalten Krieges - an die Öffentlichkeit zu gehen.
Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre finden in nahezu allen osteuropäischen Staaten Parteisäuberungen und Schauprozesse statt. Sie gehören in der Geschichte der kommunistischen Parteien zu den Ritualen der Konfliktlösung, zu den Methoden der Abschreckung, zur Ausgrenzung und Liquidierung von Abweichlern. Die Gründe für die Welle der Nachkriegsverhaftungen allein in dieser Tradition zu sehen reicht als Erklärung aber nicht aus. Die tieferen Gründe für die Prozesse sind in der internationalen Lage zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu suchen, stellen die Autoren fest. An die Stelle des Zweckbündnisses zwischen den kapitalistischen Staaten und der Sowjetunion war der alte geopolitische Kampf getreten, nun verschärft um die Drohung einer gegenseitigen atomaren Vernichtung. Das sowjetische Imperium verteidigt seinen Einflußbereich gegen die imperialen Ansprüche des Westens. Der Kalte Krieg hat begonnen: Monopoly der Großmächte. Was die eine Seite mit massiver wirtschaftlicher und militärischer Hilfe durchsetzt (so führt die Truman-Doktrin zum Beispiel zur Niederlage der griechischen kommunistischen Partisanen), realisiert die andere mit Repressionen. Die Prozesse hatten wenig mit der kommunistischen Ideologie zu tun - sie sollten die Herrschaft Moskaus über die kommunistischen Parteien sichern, ein Ausbrechen aus dem sowjetischen Block verhindern. Interne stalinistische Personalquerelen werden dabei gleich mit gelöst - Hunderte Kommunisten fallen dieser Politik zum Opfer.
Die Hysterie des Kalten Krieges produziert absurde Geschichten: Zeitgleich mit dem Slansky-Prozeß (1952) läuft in den USA das Verfahren gegen Ethel und Julius Rosenberg. Geradezu besessen betreiben Senator McCarthy und der Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe seit 1947 die Verfolgung tatsächlicher und angeblicher Kommunisten. Die Anklagen in den paranoiden Konstruktionen sind immer die gleichen: Trotzkisten, Titoisten, amerikanische/englische Spione hie, kommunistische Agenten und Sympathisanten da. In den 50er Jahren sind drei von vier Amerikanern fest davon überzeugt, daß selbst die US-Regierungsspitze von Kommunisten unterwandert ist. Hannah Arendt bezeichnete den McCarthyismus als latente Form des Totalitarismus.
Eine Schlüsselfigur im Kampf der Blöcke ist Noel Field, der erfundene Spion. Im New Yorker Prozeß gegen seinen Freund Alger Hiss, Mitarbeiter des US-Außenministeriums, spielt er eine Rolle, und in Stalins Säuberungen wird er als d e r Belastungszeuge benutzt. Die Field-Brüder hatten in der USC, einer Hilfsorganisation der Unitarischen Kirche, zahlreiche, später in Ungnade gefallene Kommunisten unterstützt und vor den Nazis gerettet. Diese Kontakte werden ihnen nun zum Verhängnis. Im Mai 1949 verschwindet Noel Field spurlos in Prag. Seine Frau Herta, die dort nach ihm sucht, wird auch verhaftet. Ihre Pflegetochter Erica Wallach kommt in ein sibirisches Lager. Hermann Field versucht, in Warschau etwas über seinen Bruder zu erfahren. Am 22. August 1949 wird er am Flughafen Warschau verhaftet - von jenem Offizier Joseph Swiatlo, der 1953 in die USA flüchten und den Behörden wichtige Informationen über ausländische Gefangene liefern wird. Die Brüder Field waren nicht die einzigen Verschollenen.
Hermann Field wird vom Warschauer Flughafen an einen unbekannten Ort verschleppt. Er braucht Wochen und Monate, ehe er die ihm zugedachte Rolle im politischen Netzwerk durchschaut. Er soll die Wahrheit sagen. In den Tagen und Nächten endloser Verhöre wird ihm sein Leben als Teil einer antikommunistischen Verschwörung ins Gegenteil verkehrt. Bis er, nach zwei Monaten der Ungewißheit und Isolation in der Kellerwelt zermürbt, beschließt, das gewünschte Geständnis abzulegen. Mit allen Details erfindet er sich als Spion, um durch einen Prozeß dem endlosen Warten, der Niemands-Welt zu entkommen. Rechtzeitig noch erkennt er die Gefahr, in die ich meinen Kopf um Haaresbreite gebracht hätte. Das wäre der reinste Wahnsinn gewesen! Er beschließt nun, unter gar keinen Umständen ein Geständnis abzulegen. Er behält seine Wahrheit: den Humanismus der Quäker, vom Vater vorgelebt, das Engagement des Bruders für Frieden und soziale Gerechtigkeit, die intensiven geistigen Auseinandersetzungen über sozialistisches Denken mit polnischen Freunden. Ethische Grundpositionen, durch die er jenseits von Ideologie politisch aktiv wurde und Tausenden Antifaschisten half. Seine moralische Integrität gibt ihm auch die Kraft, fünf Jahre Haft zu überstehen und sich selbst treu zu bleiben.
Minutiös schildert Hermann Field in seinem Bericht die Methoden, mit denen Menschen gebrochen werden können: Zuckerbrot und Peitsche. Beides ist gefährlich. Beidem muß widerstanden werden. Nicht immer gelingt das. Auch Hermann Field wird einen Selbstmordversuch unternehmen. Mit Hungerstreiks bis an die Grenze gehen. In völliger Isolation versucht er, dem Gefängnisalltag Struktur zu geben. Aber mein Hauptfeind in diesen Tagen blieb jedoch die Disziplinlosigkeit meines Denkens angesichts der totalen Untätigkeit, zu der er gezwungen wird - ohne Bücher, ohne eine Möglichkeit, sich zu beschäftigen. Eindringlich beschreibt der Architekt die Verzweiflung, die endlose Spirale der Spekulationen über meine Daseinsumstände ... Tag für Tag sprang ich in meinen Gedanken von Grauen zu Grauen, und jede weitere Runde hinterließ eine schmerzende Spur ... Das ist eine Schwachstelle, die sich das Verhörsystem der Kommunisten zunutze macht, die Moral des Opfers zu brechen.
Hermann Field erinnert sich an eine Geschichte, die er oft mit seinen Söhnen gehört hat: Muffins Welt. Muffin, ein kleiner Hund, der mit den Ohren sieht. Die Laute des Tages und der Nacht, die Geräusche des Ortes, der Lärm der Wärter - aus ihnen, gekoppelt mit Gerüchen und Beobachtungen - schafft sich der Häftling ein Bild von der Außenwelt. Zeit-Zeichen in der Zeitlosigkeit eines Grabes.
Er beobachtet die Spinnen in seiner Zelle, freut sich über die warme Lebendigkeit einer Maus, gestaltet aus den Halmen seines Strohbettes ein architektonisches Modell der Warschauer Innenstadt. Musik, lautlos gesungen (anderes war verboten), hilft ihm in Augenblicken der Depression. Ganz allmählich - immer abhängig von den Launen und Absichten seiner Verhörer und von innen- und außenpolitischen Entwicklungen - werden ihm kleine Erleichterungen zugeteilt: eine andere Zelle, Papier und Stift, nachts wird die Glühbirne ausgeschaltet. Und dann passiert das Unglaubliche. Er bekommt einen anderen Gefangenen in die Zelle, den Polen Stanislaw Mierzenski. Diese Kapitel berühren durch Feinfühligkeit, mit der Hermann Field die psychologisch komplizierte Situation darstellt. Der Schock des Unerwarteten, die Fremdheit, das gegenseitige Mißtrauen. Die vorsichtige Annäherung, das tastende Erschließen der unbekannten Lebenswelten, der behutsame Prozeß des Kennenlernens - schließlich Freundschaft. Ein seltenes Geschenk. Halt in der Ungewißheit der Haft. Aus ihrer unterschiedlichen Herkunft entwickeln sie Universitätsvorlesungen. Tag für Tag vermitteln sie sich das Wissen ihres Lebens. Als diese Quelle versiegt, schreiben sie zwei Romane, die nach ihrer Entlassung in Amerika erscheinen.
Stalins Tod (und die danach einsetzende Tauwetterperiode) reimen sie sich aus Zeitungsresten zusammen, die sie gelegentlich bekommen. So heißt ab April 1953 der Sender Katowice über Nacht Stalinograd. Endgültige Gewißheit erhalten sie aus der Zeitung vom 2.Mai 1953, aus einer Bildunterschrift zur Mai-Parade auf dem Roten Platz - an diesem Tag waren wir in allerbester Laune ... Es war die Stalin-Ära gewesen, die uns fest im Griff gehabt hatte, und ihr Ende konnte eigentlich nur einen Wandel zum Besseren mit sich bringen. Über ein Jahr wird es noch dauern, bis BBC am 25. Oktober 1954 in den Nachrichten meldet: Radio Warschau kündigt die Entlassung Hermann Fields an, eines amerikanischen Architekten, der bei der Suche nach seinem Bruder verschwunden war. Erst einige Wochen danach reist Hermann Field in die Freiheit. Zu seiner Familie. In ein Leben, von dem er während seiner Haft geträumt hat: als Architekt und Umweltplaner aktiv zu werden. Noch in Polen löst er das Versprechen ein, das er und Stanislaw Mierzenski sich gegeben haben: Wer freikommt, kümmert sich um den anderen. Mierzenski wird zu Weihnachten 1954 entlassen.
Noel und Herta Field entscheiden sich nach ihrer Freilassung, in Ungarn zu bleiben. Noel war überzeugter Kommunist geworden. 1968, als in Prag die Panzer rollen, gibt er aus Protest sein Parteibuch zurück. Ein einziges Mal noch - 1964 in Budapest - treffen sich die Brüder. Erica Wallach wird 1955 aus Workuta entlassen, sie stirbt Anfang der neunziger Jahre in den USA. Stanislaw Mierzenski erliegt 1964 einer Krebserkrankung. Hermann und Kate Field leben heute auf ihrer Farm in Amerika.
Auf einer Lesung in Berlin gefragt, warum er erst 50 Jahre später seinen Bericht veröffentlicht, sagt er, daß er sich zu keiner Zeit von keiner Seite vereinnahmen lassen wollte. Und auch jetzt - nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt - wolle er sein Buch nicht als weitere politische Trophäe verstanden wissen.
Es ist seine Geschichte - und das Psychogramm einer Epoche.