Eine Rezension von Horst Möller
Ein engagiertes Anti-Mafia-Buch
Alexander Stille:
Die Richter. Der Tod, die Mafia und die italienische Republik
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Siber.
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1997, 475 S., 1 Abb., 2 Karten
Mit ausgesprochen innigem Verständnis äußerte sich über das vielbeachtete, bereits in 2.deutscher Auflage vorliegende Anti-Mafia-Buch Die Richter, wen wunderts, die Süddeutsche aus München: Das unselige Gespann von Democrazia Cristiana und Mafia habe zumindest in Sizilien nicht nur den Wohlfahrtsstaat denaturiert, sondern ausgerechnet eine Art SED-Staat entstehen lassen. (10. 3. 1997) Nun mag ja Honecker sogar mal an Andreottis Seite aufgekreuzt sein, intimer verbandelt war der jedenfalls über Jahrzehnte mit seinem christdemokratischen Bruder Kohl. Will sagen: Wer von den Birnen alle faulen zu den Äpfeln addiert, bekommt unterm Strich trotzdem nicht die eine Obstart als die allein und stets appetitliche heraus.
Der New Yorker Publizist Alexander Stille braucht für sein beklommen machendes Buch über die so ziemlich unappetitlichsten Auswüchse in Italiens jüngster Geschichte keinen fremden Schutz vor infamen Kommentaren. Er breitet eine überwältigende Tatsachenfülle aus und bietet genau ausgelotete Einzelanalysen sowie überzeugende Gesamteinschätzungen, bis er dann im letzten der insgesamt 23 Kapitel (plus Pro- und Epilog) zu dem ernüchternden Resultat gelangt: Es werde selbst nach den neuesten überragenden Erfolgen bei der Verbrechensbekämpfung natürlich auf Sizilien und im übrigen Italien auch weiterhin Kriminalität geben wie in fast allen Demokratien. Dabei sei Gewaltkriminalität in Italien weniger ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen als eine Sache der organisierten Kriminalität (S. 416), unter die außer Rauschgiftschmuggel, Schutzgelderpressung, Steuerhinterziehung u. ä. letztlich der flächendeckende Sumpf staatlicher Korruption und die Mafia-Verstrickungen politischer Parteien, voran der einstigen Christdemokraten und der Sozialisten, fallen. Sein Kronzeuge für letzteres ist kein Geringerer als der frühere Sozialistenchef Bettino Craxi, der - mit seinem Latein am Ende - offenbarte: Alle Welt weiß, daß die Finanzierung der Parteien und des politischen Systems zum großen Teil irregulär oder illegal erfolgt. Und wenn dieses Material als kriminell erachtet wird, wäre unser System in weiten Teilen ein kriminelles System. (S. 378; nach dem Mailänder Corriere della Sera vom 4. 7. 1992)
Wie bekannt, ist Craxi danach nach Tunesien und dadurch einem gerichtlichen Verfahren entfleucht. Seitdem mit ihm zusammen ein großer Teil der regierenden politischen Klasse Italiens abserviert wurde, erscheint es unerheblich, ob ein Prozeß gegen den Hauptmatador der anderen Fraktion alles das, was Alexander Stille schon an Defiziten einer freiheitlich demokratischen Grundordnung aufgetürmt hat, noch zu überbieten vermag. Über Andreotti lautet das Urteil: er war ein wichtiger Akteur - vielleicht der wichtigste - in den Reihen einer politischen Klasse, die eine Kultur der Illegalität akzeptierte und mit der Mafia, die im südlichen Italien eine Macht war, zu gegenseitigem Nutzen und Vorteil paktierte. (S. 410) Als ob sich eine der geläufigsten leninschen Definitionen nicht landauf landab schon zur Genüge exemplifizierte, tritt ihre Kontur hinter den gesellschaftlichen Wirkungsmechanismen, die uns hier am Beispiel Italiens vor Augen geführt werden, nun noch erheblich schärfer umrissen hervor.
Oder wie paßt denn das Folgende in das doch sonst so selbstgerechte Europa unserer Tage hinein? Am 3. Mai (1991) erfuhr die schockierte italienische Öffentlichkeit von einem der haarsträubendsten Mafiaverbrechen der jüngeren Vergangenheit: Im kalabrischen Taurianova war ein Metzger vor der Tür seines in der Stadtmitte gelegenen Geschäftes von Killern aus den Reihen der lokalen ,Ndrangheta ermordet worden; sie hatten ihrem Opfer mit einem seiner eigenen Schlachtermesser den Kopf abgeschnitten und diesen dann noch zu einem Zielschießen auf der Piazza verwendet ... Der Mord, die Enthauptung und das Zielschießen hatten sich bei hellichtem Tag auf einem der größten Plätze der Stadt ereignet, und trotzdem hatte kein Mensch etwas gesehen. Der Mord war einer von fünfen innerhalb von drei Tagen und der 32. Mafiamord in nur zwei Jahren, eine erstaunliche Zahl für eine Stadt von nur 17 000 Einwohnern. Dazu kam, daß die Hinrichtung des Metzgers eine unübersehbare politische Dimension hatte: Sie schloß sich nahtlos an die Ermordung Rocco Zagaris an (und war anscheinend eine Vergeltungsaktion dafür), eines christdemokratischen Mitglieds des Gemeinderats von Taurianova, dem nachgesagt wurde, er gehöre der ,Ndrangheta an. (S. 350 f.) Es wäre ein Trugschluß zu meinen, Gewaltperversion solchen Grades laufe sich in der Endkonsequenz von selber tot. Leider droht diese Spirale sich ins Maßlose auszuweiten, solange sie auf keinen Widerstand stößt.
Die Richter ist im eigentlichen das Hohe Lied auf die beiden legendären Strafverfolger Giovanni Falcone, im Alter von 53 Jahren am 23. 5. 1992 um 17.56 Uhr mit seiner Frau und drei seiner Begleitschutzleuten durch Sprengstoffanschlag bei Palermo getötet, und Paolo Borsellino, im Alter von 52 Jahren am 19. 7. 1992 kurz nach 17 Uhr mit seinen fünf Begleitschutzleuten durch Sprengstoffanschlag mitten in Palermo getötet. Der eine, in zweiter Ehe verheiratet, hatte keine Kinder, denn: Man soll Kinder in die Welt setzen, nicht Waisen. (S.199) Der andere hinterließ seine Frau mit zwei Töchtern und einem Sohn. Daß sie sich als ,Tote auf Urlaub empfanden, aber trotzdem nicht vor den Risiken ihres Berufes kapitulierten, müsse man sich aus einem spezifisch sizilianischen Fatalismus erklären. Beide stammten aus Palermo, waren von Jugend auf engstens miteinander befreundet, kamen aus der kleinen, aber festgefügten akademischen Mittelschicht ... Der Vater Falcones war Chemiker, der von Borsellino Apotheker (S. 31). Um jeglicher Vereinnahmung vorzubeugen, hatten sie sich zu keinem Zeitpunkt einer politischen Partei angeschlossen, wobei Borsellino, praktizierender Katholik, eher konservativ eingestellt war, während Falcone sich an der Universität dem katholischen Glauben seiner Familie (entfremdet hatte) und sich für den Kommunismus zu interessieren (begann) (S. 32). Beide zeichnete aus, daß sie strenge Maßstäbe an sich selbst stellten, genauso wahrheits- wie arbeitsbesessen und von dem Wunsch beseelt waren, Sizilien von der Geißel der Mafia zu befreien. Ihr hohes berufliches Ethos leitete sich von der aristotelischen Maxime her, daß jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen nach Gutem strebt. Nicht nach der Weise mancher Operndiva, der einmal der Schnupfen einer anderen die ersehnte eigene Chance eröffnet hatte, waren sie zu Staranwälten geworden, sondern aus dem bitteren Zwang heraus, selber die an Freunden und Kollegen ihrer engsten Umgebung begangenen Morde aufklären zu müssen.
Alexander Stille, nur zehn bzw. elf Jahre jünger als die von ihm Biographierten, zeigt sich von deren Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit spürbar beeindruckt. Rufmordversuche wie z. B. die des konservativen Giornale, von dem Falcone und Borsellino als nützliche Idioten einer kommunistischen Verschwörung (S. 266) hingestellt worden waren, ordnet er souverän in die jeweils vor Ort zutreffende politische Wetterkarte ein. Glänzend macht er die weitaus subtileren Methoden, mit denen die beiden Anwälte in ihrer Wirksamkeit gebremst worden waren, durchschaubar, und zwar in einer Weise, daß ihm unter der Hand ein Lehrstück darüber gelungen ist, wie Effizienz durch falsche Aufgabenverteilung, bürokratisches Gehabe und Desorganisation gezielt zu verhindern geht.
Erfolge konnten die Strafverfolger vornehmlich dann verzeichnen, wenn ein übergeordnetes Interesse bestand, wie z. B. Anfang der 80er Jahre in Sachen Pizza-Connection, als US-Justiz- und italienisches Innenministerium ihr Vorgehen koordinierten. In kleineren Städten des amerikanischen Mittelwestens waren Pizzerien gewissermaßen wie Pilze über Nacht aus der Erde geschossen, über die gleichzeitig der von Sizilien ausgehende Drogenhandel und die Geldwäsche liefen. Die ohne jeden Lauschangriff, sondern allein aus umfangreicher Telefon- und Kontenüberwachung sowie aus Kronzeugenaussagen gewonnenen Beweise machten in kurzer Zeit die Überführung einer so großen Zahl von Schuldigen möglich, daß für den anstehenden Mammutprozeß in Palermo sogar ein neues Gerichtsgebäude erforderlich wurde. Die knappe Beschreibung dieser architektonischen Novität (ein Geheimtip für Touris!) auf S. 160 f. ist ein Kabinettstückchen für sich, und der Bemerkung am Rande, daß man sich das dafür verausgabte viele Geld besser für ein modernes Kranken- oder für das seit Jahren vor sich hin bröckelnde Opernhaus gewünscht hätte, läßt sich nur beipflichten.
Denn allzu schnell wandelten sich spektakuläre Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung, sobald der Rauch verflogen, d. h. die Öffentlichkeit fürs erste beschwichtigt war, in Scheinerfolge um, da oberinstanzliche Behörden in unschöner Regelmäßigkeit zum großen Teil die Urteile annullierten und die meisten Verurteilten wieder auf freien Fuß setzten. Dieser merkwürdige, politisch gesteuerte Mechanismus findet folgende Erklärung: Bis zum Fall der Berliner Mauer hatte auch die US-Regierung ein hohes Interesse daran gehabt, daß die Christdemokraten an der Macht und die Kommunisten von ihr verbannt blieben ... Die Amerikaner betrieben eine schizophrene Politik: Ihre Aufklärungs- und Polizeibehörden arbeiteten eng und effektiv mit Strafverfolgern wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zusammen und schufen ein beispielhaftes Modell internationaler Kooperation. Gleichzeitig hielten sich die USA als ihre engsten politischen Verbündeten viele der Politiker, die im Verdacht standen, mit der Mafia im Bunde zu sein. (S. 16)
Was es mit der angeblichen Machtgeilheit der IKP auf sich hatte, so bekommt man auch hierzu von Alexander Stille einiges geflüstert: Erpicht darauf, zu zeigen, daß sie verantwortungsbewußt genug waren, um ein Stück Macht anvertraut zu bekommen, entschieden sich die Kommunisten dafür, innerhalb des Systems zu funktionieren, statt es zu bekämpfen. (S. 151) Mit diesem Urteil erweist sich unser Autor weder als Ignorant, der etwa verkennt, daß die Linke trotz ihrer so diagnostizierten Systemangepaßtheit durchaus in vorderster Front für Recht und Gesetz einstand und dafür sehr viele Opfer brachte, noch verweist er wie ein Naivling auf irgendwelche nebulösen Selbstheilungskräfte als Ultima ratio. Nein, er läßt keine Unklarheiten darüber aufkommen, daß von den obersten Kommandozentralen sofort umgesteuert wurde, als zum einen keine mafiosen Komplizenschaften, keine überbordende Bürokratie, keine Günstlingswirtschaft und zum anderen keine Zugeständnisse in der Sozialpolitik und keine Maßnahmen zur Überbrückung der wirtschaftlichen Kluft zwischen dem Norden und dem Süden mehr gefragt waren, um ein tagein tagaus heraufbeschworenes kommunistisches Phantom abzuwehren. Es ist ein Präsident des italienischen Industriellenverbandes, den Alexander Stille in diesem Zusammenhang zitiert: Wenn wir die Probleme unseres Landes nicht anpacken - das Staatsdefizit, die Inflation, aber auch die politische Reform -, werden wir dem europäischen Markt in einer Position der Schwäche beitreten. Andere werden keinen Grund sehen, hier zu investieren, und unsere eigenen Investoren werden anderswo bessere Voraussetzungen finden... Die Ent-Industrialisierung Italiens ist nicht bloß eine Parole, sondern eine reale Gefahr. (S. 348; nach Corriere della Sera vom 10. 4. und 1. 9. 1991).
Zu den Warnungen dieser Art gesellt Alexander Stille ähnlich besorgte Stimmen, die von außen kamen: Im April 1991 äußerte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich seine Befürchtung, daß nach dem Wegfall der Grenzkontrollen Italien sein Mafiaproblem ins übrige Europa exportieren könnte. In den italienischen Gastarbeitergemeinden in Deutschland unterhielten etliche sizilianische Mafiasippen ohnehin schon aktive Kolonien. (S. 348) Mit der Bezugnahme auf soviel gesamteuropäische Autorität soll Kohl selbstredend nicht zum Saubermann geadelt und von der Verantwortung für Kriminalität im eigenen Land und deren Folgen freigesprochen werden, wo doch hiesige Zeitungsüberschriften wie z. B. Häftlings-Rekord bringt Gefängnisse in Platznot. / In Sachsen-Anhalt ,Container-Knast geplant (aus Leipziger Volkszeitung vom 18. 3. 1998) wahrlich schon ein sizilianisches Flair erkennen lassen.
Wenn Alexander Stille auf Ursachen der Kriminalität eingeht, zeigt er sich bestens vertraut mit den Ähnlichkeiten von Italien Nord-Süd im Verhältnis zu Deutschland West-Ost (natürlich mit der Einschränkung, die dem Zeitpunkt der Niederschrift seines Buches geschuldet ist in bezug auf die aktuellen separatistischen Aktivitäten, die von Deutschland Südsüdwest ausgehen und ihrerseits norditalienische Parallelen haben). Daß die Cosa Nostra auf ein fast unerschöpfliches Reservoir an hungrigen jungen Leuten ohne Lebensperspektive zurückgreifen kann, die für ein paar hundert Dollar bereit sind zu morden und Kopf und Kragen zu riskieren, ist die eine Seite der Jugendarbeitslosigkeit, die auf Sizilien bis zu 30% betrage (S. 133). Die andere, hier erklärlicherweise ausgeblendete Seite der Massenarbeitslosigkeit, nämlich die Mobilisierung der Betroffenen als ein soziologisches Wunder (so Pierre Bourdieu in Die Zeit vom 22. 1. 1998) bedarf, à la Italie und allerorten außerhalb Frankreichs noch erheblich spürbareren Nachdrucks. Auch hierfür plädieren im Grunde genommen Die Richter.
Die amerikanische Originalausgabe, 1995 erschienen, hat übrigens als Titel Excellent Cadavers, was über die im Deutschen gewählte Entsprechung hinausweist. Der Begriff ,cadaveri eccellenti wird in Sizilien verwendet, um die prominenten Mafia-Opfer aus dem Justizdienst von den Hunderten gewöhnlicher Krimineller und Normalbürger abzuheben, die im alltäglichen Mafiageschäft zu Tode gekommen sind. (S. 12) Auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino bezogen, kann für diesen Begriff an sich nur das eine gelten: Märtyrer. Sie ragen heraus, aber stehen nicht isoliert, wie die übrige Reihe dokumentierter Namen derer, die ihr Schicksal teilen mußten, aufs erschütterndste bekundet. Zu einer weiteren, durchaus intendierten, aber ganz anders gelagerten Gedenktafel für exzellente Opfer rund um den Erdball - Salvador Allende, Radjiv Gandhi, John F. Kennedy, Martin Luther King, Patrice Lumumba, Gamal Abd el-Nasser, Olof Palme, Itzak Rabin und wie sie noch heißen mögen - bestand beim hier behandelten, klar eingegrenzten Thema keine Veranlassung. Es kann jedoch überhaupt keinen Zweifel daran geben, daß das erstklassige Quellenmaterial, das Alexander Stille in so überlegener Art und Weise ausgeschöpft hat, Fährten zu noch heißeren Themen (z. B. über den Erdöl- und den gnadenlos umkämpften Waffenmarkt) birgt.
Dem Verlag ist hohe Anerkennung dafür zu zollen, erstens daß er sich mit diesem Anti-Mafia-Buch für eine wache Öffentlichkeit engagiert und zweitens, daß er eine editorische Sorgfalt walten ließ, die bis auf Nichtigkeiten (fehlende Seitenzahlen hinter den Kapitelangaben im Anmerkungsteil) kaum Wünsche offenläßt. Im überaus nützlichen Namens- und Sachwortverzeichnis ist der häufige, an sich nicht zu übersehende Terminus ,Antikommunismus weggelassen worden. Ob das aus einem seltsam unbewußten deutschen Verdrängungskomplex resultiert? Anders ist wohl auch das untröstliche Bedauern darüber nicht zu erklären, daß es wie hinsichtlich dieses Buches Die Zeit aus Hamburg neidet - die Republik Italien gewesen ist, die wie keine zweite auf der Idee des Antikommunismus aufgebaut war. (21. 3. 97) Was schließlich die Begriffe ,Cosa Nostra, ,Mafia und ,Ndrangheta anlangt, so werden sie und die weiteren dazugehörigen zutreffend erläutert als regionalgebundene Bezeichnungen für ein und dieselbe bösartige Sache, die nicht die unsere ist.