Eine Rezension von Rainer Bert

Historisches und Aktuelles zu Nationalität und Nation

Sozialdemokratie und Nation. Der Hofgeismarkreis in der Weimarer Republik und seine Nachwirkungen in der Gegenwart

Protokollband zum Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Kurt-Schumacher-Gesellschaft vom 22. bis 24. April 1994 in Leipzig. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Kurt-Schumacher-Gesellschaft herausgegeben von Dr. Michael Rudloff. Leipzig 1995

 

Etwa 50 Teilnehmer, vorwiegend Historiker, Jungsozialisten sowie Funktionäre und Mitglieder der SPD, trafen sich auf Einladung der Kurt-Schumacher-Gesellschaft und der Friedrich-Ebert-Stiftung 1994 in Leipzig zum Symposium „Der Hofgeismarkreis in der Weimarer Republik und seine Nachwirkungen in der Gegenwart“. Das Buch enthält Referate und eine Zusammenfassung der Diskussionen des Symposiums, hinzu kommen eine Auswahlbibliographie, ein Anhang und ein Dokumententeil. Die Herausgeber widmen den Band dem Mitbegründer des Hofgeismarer Kreises, August Rathmann, der Anfang 1995 kurz nach seinem 100. (!) Geburtstag verstarb. Der Hofgeismarer Kreis bestand von 1923 bis 1926 innerhalb der SPD-Jugendorganisation Jungsozialisten, trat dann aus der SPD aus. Seine Einschätzung in der wissenschaftlichen Publizistik differiert, meist wurde er als nationalistisch, teilweise bis zu präfaschistisch bewertet. 1992 erfolgte in Leipzig eine (zahlenmäßig kleine) Neugründung des Hofgeismarer Kreises. Sie war in der SPD nicht unumstritten und sorgte in der Tagespresse für einigen Wirbel, berief sie sich doch formell auf Programm und Symbolik des historischen Vorgängers und bezog in der Praxis häufig konservativen Auffassungen angenäherte Positionen.

Die geschichtsträchtige und komplizierte Thematik des Verhältnisses von Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie und Nation enthält aktuelle und historische Aspekte, geht es doch um solche Fragestellungen: Wie ist das Verhältnis von kulturellen, ethnischen, sozialökonomischen, politischen und sprachlichen Faktoren bei Konstituierung und Entwicklung von Nationen? In welcher Verbindung stehen Nation, Nationalität und Nationalismus? Gibt es spezifische, von denen der herrschenden Kräfte unterschiedene nationale Interessen der (sozialdemokratischen) Arbeiterbewegung? In welcher Beziehung stehen Nation und (National-)Staat? Verliert die Nation heute an Bedeutung? Was bedeutet nationale Identität in Geschichte und Gegenwart? Schuf die deutsche Einheit einen neuen Nationalismus?

Bereits in der Begrüßungsrede warnt Annemarie Renger, Vorsitzende der Kurt-Schumacher-Gesellschaft und frühere Bundestagspräsidentin, der „Nationenbegriff steht schon wieder in Gefahr, mißbraucht und in sein Gegenteil, den Nationalismus, verkehrt zu werden“, im vereinigten Deutschland müsse man sich einen neuen Nationenbegriff aneignen (S. 15). Hans Mommsen konzentriert sich in seinem Referat „Die Sozialdemokratie und die Nation. Nationale Loyalität und internationale Solidarität in der deutschen Arbeiterbewegung“ auf Positionen in der Arbeiterbewegung vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit um den Ersten Weltkrieg, um dann die weitere Entwicklung und heutige Lage kurz anzureißen. Als entscheidend gilt ihm, daß „nationale Einstellungen offenbar nicht aus sozio-ökonomischen Interessenlagen direkt abgeleitet werden können“ (S. 26). Für die Gegenwart, meint Mommsen, stehe das Nationalstaatsprinzip „nicht mehr auf der Tagesordnung der europäischen Politik“ und sei eine „rezensive Erscheinung“ (S. 25), nationale Identifikationsprozesse vollzögen sich in Europa jetzt auf dem Wege der Auflösung der nationalstaatlichen Solidarität zugunsten der Regionalisierung. Zu Deutschland stellt er fest: „Wenn die gesamtdeutsche Einheit entstehen soll, dann entsteht sie nur auf Grund der Pflege der regionalen Identitäten.“ (S. 28)

Diese Wertung stieß dann in der sich anschließenden Diskussion ebenso auf Widerspruch wie seine Einschätzung, daß angesichts der heutigen Entwicklungen die Idee der Nation auf den „Schindanger der Weltgeschichte“ (S. 27) gehöre. Letztlich gilt für diese Diskussionsrunde (und auch für einige weitere Beiträge), daß nicht eindeutig genug um begriffliche Klarheit gerungen wurde: Nation, nationaler Gedanke, nationale Frage, Nationalismus, Nationalstaat standen oft nebeneinander und gar synonym. Erlangte in den 70er/80er Jahren in der SPD die Definition einer Kulturnation (angesichts der deutschen Zweistaatlichkeit) an Stelle der Staatsnation eine überragende Bedeutung, so fällt auf, daß diese Problematik an dieser Stelle nicht näher thematisiert wurde (und nur unter dem Aspekt eines „westdeutschen Separatismus“ und der Zugehörigkeit der Bevölkerung der ehemaligen DDR zur deutschen Nation am Rande gestreift wurde).

In den Beiträgen des Symposiums behandelt F. Walter (Göttingen) unter dem Thema „Zwischen nationaler Romantik und sozialdemokratischer Reformpolitik“ Positionen des Hofgeismarkreises und dessen Wirkung auf die SPD. Er charakterisiert den Hofgeismarer Kreis als politische Gesinnungsgemeinschaft, die als Ergebnis der Krise der SPD nach dem Ersten Weltkrieg entstand und in sich sehr differenziert war (er macht drei Strömungen aus). Insgesamt, so schätzt er ein, gab es in den Debatten des Hofgeismarer Kreises „nicht sehr viele fruchtbare Elemente, die uns heute noch etwas sagen können“ (S. 54). Für interessanter hält er die Diskussion der „Nach-Hofgeismar-Traditionen“ Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre (er nennt u. a. Reichsbanner, religiöse Sozialisten, Koalitionsfrage, Analyse der sozialen Schichten, Militär, Antikommunismus). S. Weichleins Beitrag „Der nationale Gedanke der Arbeiterbewegung in der Region Kassel“, der sich vor allem der Kasseler SPD-Organisation widmet, geht am eigentlichen Thema des Symposiums etwas vorbei. M. Rudloff setzt sich in seinem Referat „Umkehr zur Irrationalität“ mit dem Problemkreis Religion, Nation und Sozialismus in der Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg auseinander. Er vertritt die Auffassung, die Jugendbewegungen in der Weimarer Zeit hätten unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Ausformung drei Aufgaben gehabt: eine soziale, eine nationale und eine religiöse (S. 82). Für die Hofgeismarer war die Nation eine „natürlich gewordene Natur- und Schicksalsgemeinschaft“ (S. 84).

Die weiteren Beiträge vom Symposium reflektieren Diskussion und Erinnerungsberichte sowie die Podiumsdebatte über „Hofgeismar heute: Nationale Identität im vereinigten Deutschland“. In der Diskussion zu den Referaten brachten einige Teilnehmer ihre historischen Erinnerungen ein (sie galten vor allem der SPD und der sozialdemokratischen Jugendbewegung). Während Walter und Weichlein die negativen Wirkungen der Hofgeismarer auf den Bestand der Weimarer Demokratie betonten, versuchten Rudloff, Jung und andere, den Hofgeismarer Kreis historisch aufzuwerten. Auch die abschließende Podiumsdiskussion offenbarte unterschiedliche Auffassungen. P. Dann sah es als problematisch, an den Hofgeismarer Kreis heute inhaltlich anzuknüpfen, meinte aber dessen Fragestellungen, z. B. die nach Staat und Nation, fruchtbar machen zu können. Die Sozialdemokratie könne sich nicht in die Traditionslinie stellen, die Nation als Schicksals- und Kulturgemeinschaft (im Sinne der Kulturnation) auffasse, statt dessen vertrat er den Begriff der Staatsbürgernation und des Verfassungspatriotismus. „Die Nation ist die Gemeinschaft der Staatsbürger.“ (S. 135) In ähnlichem Sinne argumentierten auch A. Renger, „die Nation bei uns (war) nur ein Begriff für das Land, in dem man geboren war und zu dem man gehörte“, J. Maruhn und W. Marcus. Weichlein wandte sich dagegen, den Begriff des Nationalen „ethnisch zu füllen“, weil heute das Nationale in transnationale Prozesse eingebunden ist (S.149). Rudloff wollte einen sozial interpretierten Nationsbegriff zugrunde legen, ähnlich auch J. Strasser und, nicht ganz so deutlich, G. Weißgerber, der nationale und soziale Frage als verbunden hervorhob. Die Mehrheit der Teilnehmer konnte sich mit dem Verfassungspatriotismus nicht anfreunden, da er vor allem die Bevölkerung in der DDR vor 1990 ausschließe. Zudem wurde das Verschwinden des Nationsbegriffs bemängelt.

Abschließend noch einige Bemerkungen zum übrigen Teil - er umfaßt immerhin zwei Drittel - des Bandes. Unklar bleibt, was die Herausgeber bewog, zwischen Dokumenten und Anhang zu unterscheiden, und welche Aufnahmekriterien sie zugrunde legten. Was als „Dokumente“ fungiert, sind nichts anderes als publizistische Beiträge. Übrig bleiben als eigentliche Dokumente lediglich das Faksimile der Berichte über die Gründungstagung des Hofgeismarschen Kreises aus den „Jungsozialistischen Blättern“ und aus „Neuwerk“, die Nachdrucke der Politischen Grundsatzerklärung des Kreises von 1925, eines Artikels aus der „Illustrierten Reichsbanner Zeitung“ und eines Traktats von Franz Lepinski aus dem Jahre 1927. Die anderen zehn Beiträge (u. a. von Reinhard Lüpke und Heinrich August Winkler) sind zumeist Sammelbänden und Zeitschriften der 90er Jahre entnommen. Sie wären inhaltlichkonzeptionell besser dem „Anhang“ zugeordnet worden. Dieser enthält u. a. einen Nachdruck des Berichts über das Symposium in einer historischen Fachzeitschrift, einen Erinnerungsbericht an Herbert Großmann sowie (bereits anderweitig publizierte) Beiträge zur Kontroverse um die Neugründung des Hofgeismarer Kreises. Die abgedruckten Beiträge vermögen zwar diese Kontroversen zu dokumentieren, doch zum eigentlichen Themenkreis (Sozialdemokratie und Nation, Positionen des Hofgeismarer Kreises) vermögen sie gegenüber den vorherigen Seiten wenig Neues zu bieten. Hervorgehoben werden sollen aber die oben erwähnten Beiträge von Lüpke und Winkler. Sie geben einen kurzen Überblick über die sozialistische Jugendbewegung der Weimarer Republik und den Hofgeismarer Kreis, sie bieten quasi eine Einführung in die Thematik, könnten daher durchaus empfohlen werden, zuerst gelesen zu werden.

Eines macht auch dieser Band deutlich: Die Arbeiterbewegung (hier dargestellt an der deutschen Sozialdemokratie) hatte stets einige Schwierigkeiten, mit der nationalen Frage, mit ihrem Verhältnis zur Nation und den damit verbundenen vielschichtigen Problemen ausgewogen umzugehen. Das ist auch heute unübersehbar: „Soweit ich mich entsinnen kann, war das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Nation ein schwieriges“, beklagt Annemarie Renger (S. 140). Aber das gilt wohl auch für dessen historische Aufarbeitung.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite