Eine Rezension von Max Reizmann
Eine immense politische und wissenschaftliche Leistung
Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989
Reihe Forschungen zur DDR-Gesellschaft.
Christoph Links Verlag, Berlin 1997, 960 S.
Ehrhart Neubert hat eine immense Arbeit geleistet. Gewiß, die erste wissenschaftliche Gesamtschau der Opposition in der DDR war von dem heutigen Mittfünfziger, der seine oppositionelle Haltung während seines Theologiestudiums in Jena, als Gemeindepfarrer in Thüringen und von 1984 bis 1992 als Referent für Gemeindesoziologie in der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen der DDR ausbildete, bereits in Publikationen wie Eine Protestantische Revolution (1990), Vergebung oder Weißwäscherei - Zur Aufarbeitung des Stasiproblems in den Kirchen (1993) oder auch in der Streitschrift Untersuchung zu den Vorwürfen gegen den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe (1993) vorbereitet worden. Dennoch: Was der einstige Mitbegründer der oppositionellen Gruppierung Demokratischer Aufbruch in knapp 1 000 Seiten als überarbeitete Fassung seiner im Wintersemester 1997 am Fachbereich Politische Wissenschaft der Technischen Universität Berlin verteidigten Dissertation jetzt vorgelegt hat, ist theoretisch-konzeptionell von neuer wissenschaftlicher Qualität.
Insgesamt 106 Kapitel hat Ehrhart Neubert verfaßt, um die spezifische, genau abgesteckte Zielstellung seiner Forschungsarbeit realisieren zu können: Es soll um Oppositionsgeschichte und weniger um Widerstandsgeschichte gehen. Der tausendfache Widerstand einzelner oder kleiner Gruppen, der sich auch in den vielen politischen Prozessen und der großen Zahl politischer Gefangener spiegelt, war nicht auf Kontinuität angelegt und kann hier zumeist nur an einigen exemplarischen Fällen gezeigt werden. Das Hauptinteresse galt den Wurzeln, der Entfaltung und Wirksamkeit der inneren bzw. systemimmanenten Opposition, den Prozessen ihrer sozialen Selbstorganisation, deren ideologischen, theologischen und kulturellen Kontexten und Identitäten. Vor allem soll die Kontinuität der Opposition trotz aller Brüche und Umorientierungen sichtbar werden, heißt es im Vorwort (S. 15). Diese selbstgestellte Aufgabe hat Ehrhart Neubert mit großer Konsequenz, riesigem Arbeitspensum, fortwährender Lust zu Polemik und Streiten um die Wahrheit, nicht zuletzt - wenn es auch in der wissenschaftlichen Forschung etwas Analoges wie in der Kunst gibt - mit bemerkenswerter sozialwissenschaftlicher Meisterschaft bewältigt.
Bis auf die Einleitung mit ihren beiden Kapiteln (mit übergreifendem theoretischen Charakter) - Kapitel 1: Gesellschaft und Politik im SED-Staat und Kapitel 2: Erscheinungsformen der politischen Gegnerschaft - ist der Stoff streng historisch geordnet. Die Gliederung hält sich in der zeitlichen Begrenzung verständlicherweise an Ereignisse bzw. markante Entwicklungen in der Geschichte der Gegnerschaft, als da sind: der 17. Juni 1953, der Mauerbau und der Entstalinisierungsversuch 1961 mit den Folgen für die Gegner, der Aufbruch des marxistischen Widerspruchs und der kirchlichen Opposition in der Anfangsphase Erich Honeckers 1971/72, die offizielle innere Befriedung des Verhältnisses von Staat und Kirche 1978 und die sich anschließende Entfaltung der oppositionellen Friedensbewegung, die Neuformierung der Opposition als Demokratiebewegung nach der Krise 1984, die Mobilisierungsphase seit 1986 durch den Tschernobylunfall und das Auftreten Michail Gorbatschows sowie schließlich die Krise des SED-Staates 1989 mit einem Umbau der Opposition. (S. 15)
In der Endkonsequenz sind es acht Teile, in denen die vierzigjährige Geschichte der Opposition in der DDR samt ihrer SBZ-Vorzeit dargelegt wird:
I. Nationaler Widerstand und demokratische Opposition 1945 bis 1953 mit der Opposition in der sowjetischen Besatzungszone, dem Widerstand gegen den Aufbau des Sozialismus in der DDR und dem Aufstand vom 17. Juni 1953;
II. Konflikte in der Partei-Gesellschaft 1953 bis 1961 mit den Widersprüchen innerhalb der SED, den Konflikten zwischen SED und Gesellschaft und dem rapide anwachsenden Strom der Republikflüchtigen;
III. Für Freiheit und Sozialismus 1961 bis 1972 mit einem zweiten Anlauf zur Entstalinisierung, den europäischen Aufbrüchen und der Umprofilierung der kirchlichen Opposition unter der Losung Freiheit und Dienst der Kirche;
IV. Auf der Suche nach der Alternative 1972 bis 1978 mit neuen Formen der politischen Gegnerschaft in der DDR, marxistischen Alternativen von Robert Havemann, Rudolf Bahro bis zum Manifest der Opposition, der Ausbildung einer real existierenden Alternative in der Kirche und neuen Reaktionen des Westens auf die Oppositionsbewegung in der DDR;
V. Die Friedensbewegung im ,Friedensstaat 1979 bis 1983 mit der Entfaltung der Friedensbewegung zu einer Massenbasis, der erweiterten sozialen Basis der Opposition und ihren neuen Strukturen;
VI. Formierung der Opposition als Demokratiebewegung 1984 bis 1986 mit dem Umschwung von der Resignation zur Konzentration der Kräfte, einer Neugestaltung der Beziehungen von Staat, Kirche, Gesellschaft und Gruppen sowie dem Mobilisierungsschub der Demokratiebewegung 1986;
VII. Oppositionelle Gegen-Macht 1987 bis August 1989 mit den gesellschaftspolitischen Kontrollverlusten der SED, neuen Strukturen, Schwerpunkten und Machtpositionen der Opposition und der Herausbildung einer Hauptstadt der Opposition: Leipzig 1987 bis 1989;
und schließlich VIII. Das Ende der Diktatur und die Rolle der Opposition von September 1989 bis Januar 1990 mit der Herausforderung der SED durch Neuformierung der Opposition, deren Aktionen zur Oktoberrevolutionsfeier und den Entscheidungen im November 1989, die das Ende der DDR vorbereiteten.
Immer wieder überrascht, wie es Ehrhart Neubert gelingt, eine große Detail- und Faktenfülle mit komplexer Sicht auf die gesamte Oppositionsbewegung und deren Aktivitäten, differenzierten - und deswegen auch stimmigen, überzeugenden - Einschätzungen der herrschenden SED-Führung und der weitaus umfangreicheren Polarisierungsprozesse auf der marxistischen Seite mit der genauen Fixierung auch kleiner und kleinster qualitativer Veränderungen in Köpfen oder Aktionen der oppositionellen Kräfte zu verbinden. In jeder Periode werden - wie vorgenommen - die wichtigsten politischen Ereignisse, Vorgänge und Auseinandersetzungen um Personen, die Entwicklung und Politisierung von widerständigen Milieus, das Entstehen von Organisationsstrukturen, das Besetzen von Öffentlichkeitsfeldern und die geistig-kulturellen Kontakte im Kontext deutsch-deutscher Politik dargestellt. (S. 15) Bei Rückschlägen wie auch gezeigten Kontinuitäten wird deutlich herausgestellt, daß es sich jeweils um offene Prozesse handelte, zumal über lange Zeit der Machtvorteil der SED erdrückend war; es wird von Kapitel zu Kapitel jedoch auch immer mehr erkennbar, was die hauptsächliche Aussage des Buches ist: ... daß die oppositionelle Energie sich aus Quellen speiste, die die Herrschenden nicht verschütten konnten und an denen sie schließlich gescheitert sind. (S. 15)
Aus dieser Perspektive leuchtet es ein, daß sich Ehrhart Neubert entschieden und kompromißlos gegen alle Mythen wehrt, die nach dem Ende der DDR in Umlauf gekommen sind. Das Ende der DDR - Das Ende der DDR-Opposition lautet die programmatische Überschrift seines letzten Kapitels. Aber bis in jüngste Zeit werden Legenden in Umlauf gesetzt, als gäbe es eine für alle gültige DDR-Identität, als wären alle DDR-Bürger eine Gemeinschaft der Gleichen, der gleich Verantwortlichen und gleich Beteiligten gewesen. Die Verlierer, die sich als ,Sieger der Geschichte wähnten, suchen Entlastung durch die Vergemeinschaftung von Schuld und wollen geschichtspolitisch nachholen, was sie realgeschichtlich nicht erreicht haben (S. 15), benennt er die Hauptrichtung seiner Polemik.
Ehrhart Neubert endet nicht in Euphorie, sondern in Realismus und Nüchternheit, als er im letzten Kapitel auch auf die Lage der DDR-Opposition nach dem Januar 1990 zu sprechen kommt. Die Phase des Umbruchs sei für sie zu kurz gewesen, lautet sein Resümee: Sie hatte nicht die Muße, um zu sich selbst zu finden. In wenigen Monaten mußte sie von den Strategien einer systemimmanenten Opposition zu einem den demokratischen Verhältnissen entsprechenden Politikverständnis finden und war damit überfordert. (S. 902 f.) Was diese inhomogene politische Bewegung jedoch hinterlassen hat, ist dies: Sie hat die geistige Freiheit gegen den Verfügungsanspruch des Totalitarismus verteidigt. Das bleibt ihr Beitrag zur deutschen politischen Kultur, steht im Schlußsatz des 106. Kapitels.
Ehrhart Neuberts Buch paßt in Inhalt und Form nicht nur sehr gut in die Reihe Forschungen zur DDR-Gesellschaft des Christoph Links Verlages, es setzt in ihr auch Maßstäbe, indem es Vorbildliches und Nachahmenswertes zur Aufbereitung von DDR-Geschichte bietet.