Eine Rezension von Kurt Wernicke

Wertvoller Überblick über die Grundlagen der jüdischen Religion

Theodor Much: Judentum, wie es wirklich ist
Die bedeutendsten Prinzipien und Traditionen. Die verschiedenen Strömungen. Die häufigsten Antijudaismen.

Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 1997, 191 S.

 

Die Lehre von religiösen Grundfragen ist eigentlich und traditionell die Aufgabe universitärer Vorlesungen und Seminare. Häufig genug bedarf es erheblicher Anstrengungen des Adepten, sich in die Problematik hineinzuknien, und auch dann ist das Ergebnis nicht selten - zumal bei kritisch gesonnenen Geistern - eher Verwirrung denn Klarheit. Daß sich der Verfasser der Aufgabe unterzieht, das Judentum für Nichtjuden auf 150 großgedruckten Buchseiten erklärbar zu machen, weist ihn als ziemlichen Optimisten aus: Welcher christliche Theologe würde sich schon einem gleichgearteten Unternehmen hinsichtlich seines Glaubens stellen? So verwundert es nicht, wenn man erfährt, daß Much auch gar kein - jüdischer - Berufstheologe ist, sondern ein anerkannter österreichischer Dermatologe, dessen religiöse Bedeutung dennoch nicht ohne Gewicht ist: Er hat 1990 in Wien die erste liberale jüdische Gemeinde mitgegründet und steht der damit ausgelösten Aufbruchsbewegung (Or-Chadasch) heute als Präsident vor. Er steht also inmitten des Judentums und ist mit den praktischen Folgen der darin angesiedelten Pluralität bestens vertraut.

Sein kurzer und instruktiver Überblick über die Grundlagen der jüdischen Religion teilt jenes Wesentliche mit, ohne dessen Kenntnis jedes Bemühen um verständnisvolle Annäherung an das Judentum ohne die unbedingt nötige Grundlage bleiben muß. Die Aufklärung über den rationalen Kern der so überzeugt zum Aushängeschild gewordenen „Auserwähltheit“ des Volkes Israel, dessen sich die jüdische Orthodoxie ebenso bedient wie der platteste Antisemitismus, könnte nicht überzeugender sein: Da die Bibel (die ursprüngliche - also die ohne das Neue Testament) von Christen wie von Juden gleichermaßen als Heiliges Buch verehrt wird, kann der Bund Gottes mit einem von ihm ausgewählten Volk aus ihr leicht als ein nachgeordneter Vorgang eingestuft werden, der dem Bund Gottes mit d e n Menschen (mit Noah, vgl. Genesis 9, 8-17) erst nachfolgt; da bleibt nicht viel mehr an Ausgewählt-Sein als nur die besonders strenge Befolgung der von Gott für diesen Bund gesetzten Gebote!

Ganz wie im Christentum, scheiden sich an der Haltung zu diesen göttlichen Norm-Setzungen die Geister seit eh und je, und das heutige Judentum ist daher - wie auch das Christentum und auch der Islam - in etliche Richtungen aufgespalten. Schon die Bibel macht uns mit diversen Gruppen, Sekten und Parteien im Judentum bekannt, die natürlich alle den „einzig wahren“ Glauben zu vertreten meinten. Much subsumiert die heutigen Richtungen unter den Oberbegriffen „orthodox“ und „progressiv“. Jede der beiden Hauptgruppen ist in sich wieder gegliedert. Stellen die Orthodoxen schon im Judentum eine Minderheit von - so wenigstens der Autor - rund 10 Prozent dar, so sind die Ultraorthodoxen nun wiederum in deren Reihen eine winzige Minorität. Much legt überzeugend dar, daß deren sogenannte Gesetzestreue (wortwörtliche Befolgung der Gebote aus der Bibel [Thora] und der später zu deren Auslegung entstandenen talmudischen Regeln) im täglichen Leben unserer jetzigen Welt nicht vollziehbar ist, da ja eine erhebliche Anzahl von Voraussetzungen für diese Normen in den seit ihrer Entstehung vergangenen Jahrtausenden hinfällig geworden sind - das strikte Anlegen der alten Meßlatte (man denke an den im Zusammenhang mit dem Alten Tempel stehenden Opferkult, die Mißachtung der Frau im Eherecht, die Verfolgung von Homosexualität) daher in der Gegenwart zu höchst skurrilen Verrenkungen führt. Muchs Anliegen, der Welt begreiflich zu machen, daß die überwiegende Mehrzahl der Juden diesen Verrenkungen mit Unverständnis und wachsender Ablehnung gegenübersteht, macht sein Buch so aktuell. Es ist um so aktueller, als eine zunehmend verwunderte Welt ja trotz aller medialen Filterung immer deutlicher erfährt, wie sehr die von den Juden so sehr ersehnte Heimstatt, die sich seit einem halben Jahrhundert im Staat Israel präsentiert, mehr und mehr zum Tummelplatz religiöser Intoleranz wird, wo sehr winzige „religiöse“ Parteien mit zu einem guten Teil rassistischen Zuschnitt in der Lage sind, den Friedensprozeß in einer ganzen Weltregion zu blockieren ... Die progressive Richtung unterteilt Much in eine reformerische, eine liberale und eine mehr konservative Strömung. Deren Unterschiede sind allerdings nicht mit der sonst im ganzen Buch anzutreffenden Klarheit ausgeführt, was wohl darin begründet ist, daß Gruppen, die sich selbst der einen oder anderen Strömung zurechnen, sich bei prinzipiell gleicher Orientierung in Israel selbst, in Europa und in Amerika unterschiedliche Zuordnungen geben.

Die Behandlung von „Auserwählung“ und „Pluralismus“ füllt allerdings nur 2 von 17 Kapiteln. Auch die übrigen 15 widmen sich Sachfragen, z. B. „Wer ist Jude?“ (es sei gleich gesagt, daß es auch dazu innerhalb des Judentums verschiedene Antworten gibt, von denen viele Pragmatismus durchschimmern lassen), „Der Status der Frau im Judentum“, „Der jüdische Kalender und seine Feste“, „Speisegesetze“ u. dgl. Das Kapitel „Antisemitismus und Vorurteile heute“ formuliert auf der Basis der vorhergehenden aufklärenden Kapitel die Konsequenz: Die moderne Welt (allerdings ist darunter immer die mit den westlichen Wertmaßstäben zu verstehen) bietet für den Antisemitismus weder religiöse noch ökonomische noch gar anthropologische Ansatzpunkte, auf die er sich mit einigem Grund als halbwegs rationale Grundlage berufen könnte! Er ist also total obsolet - und rumort dennoch latent über mitteleuropäischen (in der konkreten Untersuchung über österreichischen) Stammtischen.

Eine beigefügte Zeittafel „Hauptereignisse der jüdischen Geschichte“ gibt dankenswerterweise die Möglichkeit, im Text benannte Vorgänge und jüdische Denker zeitlich einzuordnen. Die für eine Tabelle gebotene Knappheit wirft nichtsdestoweniger hier und da Fragen auf: Warum z. B. steht bei 1948 im Zusammenhang mit dem ersten israelisch-arabischen Krieg so lapidar „Massaker von Deir Jassin“? Jeder unvoreingenommene Leser wird doch annehmen, daß an ein Massaker erinnert wird, das an Juden verübt wurde - aber es war gerade ein Massaker, das israelische Kämpfer an arabischen Zivilisten verübten. Wird da ein Trauma bedient?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite