Eine Rezension von Klaus Ziermann

Eine „Legende seiner selbst“?

Jürgen Leinemann: Helmut Kohl

Die Inszenierung einer Karriere.

Reihe „Aufbau Thema“. Herausgegeben von Wilhelm von Sternburg.

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 117 S.

 

Das ist das beste politische Sachbuch, das mir in jüngster Zeit in die Hände geraten ist: eine Kanzler-Biographie, brillant geschrieben, bildhaft, überzeugend in den Argumenten und spannend zu lesen. Die Charakterzüge eines deutschen Vollblut-Politikers sind - das ist von der ersten Seite an zu spüren - aus unmittelbarer Nähe erlebt, feinfühlig empfunden und in ihren alters- wie zeitbedingten Veränderungen differenziert erfaßt worden. Das will für ein politisches Sachbuch viel heißen, aber Jürgen Leinemann hat nicht ohne Folgen die harte „Spiegel“-Schule hinter sich, und er hat auch Helmut Kohl nicht umsonst bei vielen seiner Aktionen begleitet. So konnte er hinter der Bundeskanzler-Politik stets auch das unverwechselbare, sehr eigenwillige Politiker-Individuum Helmut Kohl wahrnehmen. Jürgen Leinemann ist durchaus zu glauben, wenn er gegen Schluß seines Buches schreibt: „Gewiß, älter ist er geworden, erfahrener und schwerer. Aber Charakter, Vorlieben, Überlebenstechniken und Grundhaltungen blieben unerschüttert.“ (S. 117)

Da Jürgen Leinemann um ein objektives Kanzler-Bild bemüht ist, analysiert er Helmut Kohls Kanzler-Karriere vom Anfang an, auch der vorerst von der eigenen Partei aufgeschobene Einstieg in den Kanzler-Bungalow wird nicht ausgespart. „1978 Der gedemütigte Kandidat“, „1982 Kanzler Kohl - zu jung für Schuld und Sühne“, „1983 Die Großfamilie CDU und der ,Meisteresser‘“, „1989 Realsatire Bonn“, „9. November 1989 Die Geschichte eilt zur Hilfe“, „1990 Kanzler der Einheit - ein ,neuer‘ Kohl“, „1992 Bilder statt Taten: symbolische Politik“, „1995 Er ist ein Berliner“ und „2000 Kohl schon zu Lebzeiten eine Legende“ lauten die Etappen, in denen Helmut Kohl in seiner Kanzler-Karriere auf Herz und Nieren geprüft wird.

Die Wertungen, die Jürgen Leinemann aus Helmut Kohls Politik und Lebensart herausholt, sind bewundernswert. „Oggersheim ist und bleibt sein Welt- und Lebensmodell“, steht da zu lesen. „Keine Überzeugung hat er öfter ausgesprochen und konsequenter gelebt als die, daß alles, was im privaten Leben gut ist, auch in der Politik taugt. Und umgekehrt.“ (S.23) Oder: „Wer die Welt anders sieht als er, ist entweder ,einfach dumm‘. Oder ihm mangelt es an Informationen.“ (S. 24) Ist das nicht der Helmut Kohl, wie er „leibt und lebt“, wie ihn Millionen Deutsche Jahr für Jahr am Bildschirm oder auf Wahlveranstaltungen seiner Partei oft genug erleben konnten?

Auch das hat jeder Bundesbürger in alten und neuen Ländern schon erfahren: „,Weiter so, Deutschland‘, heißt die Beschwörungsformel des Amtsinhabers Helmut Kohl. ,Wir, die Deutschen‘, werden es schon richten. Helmut Kohl hat immer gerne ,wir‘ gesagt. ,Wir‘ gegen ,die‘ war stets seine Methode, die Welt zu sortieren.“ (S. 91) Der gewissenhafte Autor der Helmut-Kohl-Biographie hat in der Tat nichts hinzugedichtet oder frei erfunden; er hat eigentlich bloß sehr geschickt und immer mit aktuellem Bezug aufgeschrieben. Wie er aus der Schar junger Frauen der DDR ausgerechnet die zwei konservativsten herausgepickt und auf Bundesministersessel hob, das ließ politische Weitsicht und Geistesverwandtschaft erkennen. Jürgen Heinemann kommentiert das auf den Seiten 88/89 folgendermaßen: „Die Ernennung der braven und adretten Claudia Nolte aus der Ex-DDR zur Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist so ein symbolisches Signal: 1966 in Rostock geboren, strebsam, erzkonservativ katholisch, ,wertestark dem Ganzen dienend‘, so spottet die Publizistin Mechthild Jansen, verrät sie die Sehnsucht ihres Entdeckers Helmut Kohl nach einer heiteren, kontrollierten, versorgten Welt ... Rein machttechnisch betrachtet war die Ernennung dieser anpassungsfähigen und leistungsfreudigen jungen Mutter aus dem Osten natürlich kein ungeschickter Schachzug. Darauf ist bei Helmut Kohl Verlaß.“

Selbstverständlich weiß Jürgen Leinemann, daß 1998 Bundestagswahlen bevorstehen, in denen die Frage entschieden wird: Muß Helmut Kohl abtreten, oder führt er die Deutschen als Kanzler-Legende ins 3. Jahrtausend? Es ist gut für das Buch, daß sich der Autor nicht zu Prognosen hinreißen läßt, denn entschieden ist diese Frage noch längst nicht. Jürgen Leinemann gibt jedoch zum Schluß seines Buches einiges zu bedenken: „Das Gerede von der ,Ära Kohl‘ geht weiter. Aber ein Beweger der Geschichte ist dieser Kanzler so wenig gewesen wie ein bloßer Gefangener der Zeit und ihrer Umwälzungen. Eher versteht er sich, im Sinne Bismarcks, als einen Menschen, der den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken kann. ,Er kann nur darauf hinfahren und steuern, mit mehr oder weniger Erfolg und Geschick, kann Schiffbruch leiden und stranden und zu guten Häfen kommen.‘

Dafür freilich hat Helmut Kohl in dieser Zeit der jähen Wechsel und schroffen Umbrüche mehr Talent gezeigt und Erfolge erzielt, als ihm selbst seine Freunde zugetraut hätten. Was immer auch geschieht, Kohl hält durch und bleibt sich treu. 52 Jahre CDU-Mitglied, 25 Jahre Bundesvorsitzender und 16 Jahre Kanzler - aber weit und breit kein ,neuer Kohl‘.“ (S. 116)

Diese Worte sollten sich besonders jene durch den Kopf gehen lassen, die schon jetzt in großer Hoffnung vom Sieg einer rotgrünen Koalition in Bonn schwelgen. Sie sollten ruhig noch einmal gründlich lesen, was Jürgen Leinemann - wiederum gegen Ende seines Buches - geschrieben hat: „Ein Denkmal? Das will er nicht sein. Das bröckelnde Brandt-Monument auf dem „Spiegel“-Titel im Frühjahr 1974 hat Helmut Kohl immer vor Augen. Zwar scheint er, wenn er dieser Tage öffentlich auftritt, oft ein bißchen abgelenkt, als lausche er einer fernen Melodie und ticke nach einer anderen Uhr ... Und doch - noch immer beherrscht die massige Figur dieses Kanzlers jede Szenerie, ob er mit erstaunlich behenden Bewegungen die Stufen zu Rednerpulten hinaufeilt oder ob er buddhaartig träge im Plenum des Bundestages hockt. Wer seinen Weg sucht in Bonn und in der Partei, der muß am ,Alten‘ vorbei.“ (S. 113)

Auch das „Vorwort“ sollte nicht übersehen werden, denn dort hat Wilhelm von Sternburg seine Meinung in zwei deftigen, markanten Sätzen kundgetan: „Der deutsche Michel aber schätzt das Beständige, scheut das Risiko, liebt manches, aber nicht politische Veränderung“, steht da geschrieben. „Was immer also die Demoskopen prognostizieren, noch ist Helmut Kohl nicht verloren.“ (S. 10)

Wilhelm von Sternburg macht eine Rechnung auf: „Der erste Kanzler des Deutschen Reiches verließ das Amt nach 19 Jahren. Nicht freiwillig, aber ausgebrannt, verbittert ... Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, leitete 14 Jahre die deutsche Politik, bis ihn Freund und Feind dazu zwangen, aufs Altenteil zu gehen ... Helmut Kohl, der erste Kanzler des wiedervereinigten Deutschland, ist seit 15 Jahren Inhaber der Macht in seinem Staat.“ (S. 7) Als Wahlsieger 1998 könnte Helmut Kohl sogar Fürst von Bismarck übertreffen.

Doch warten wir den Wahltag ab.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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