Eine Rezension von Max-Claus Resel

Gewichtig wie ein Handbuch

Wolfgang Jäger/Ingeborg Villinger:

Die Intellektuellen und die deutsche Einheit

Rombach Wissenschaften - Reihe Litterae. Herausgegeben von Gerhard Neumann und Günter Schnitzler.

Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 1997, 392 S.

 

Dieses Buch strahlt rundum Solidität aus. Das ist dem Gewicht dieses vorzüglich gestalteten Bandes in der Hand ebenso anzumerken wie den Fragestellungen, den Arbeitsmethoden der Autoren, dem wissenschaftlichen Apparat oder den Ergebnissen der Interviews mit zwölf bekannten deutschen Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern. Der Ausgangspunkt der „Einleitung“ läßt bereits unter „I. Die Fragen“ vieles offen. „Die Ereignisse der Jahre 1989/1990, an deren Ende sich Deutschland als Nationalstaat konstituieren konnte, verliefen zum großen Teil anders, als viele Intellektuelle es erhofften“, steht da zu lesen. „In Ost und West wurde der politische Prozeß der Vereinigung durch die Vertreter des ,vision business‘ in umfangreichen Debatten begleitet, die ihr schillerndes Verhältnis zu den Vorgängen beleuchten.“ (S. 7) Zweierlei fällt bereits auf den ersten Seiten des Einleitungsteils auf und gehört zu den Vorzügen des gesamten Buches: das unvoreingenommene Herangehen an den wissenschaftlichen Gegenstand und die differenzierte Sicht auf die „Intellektuellen“. Was Wolfgang Jäger und Ingeborg Villinger an wissenschaftsmethodischen Grundlagen für Urteile über die Rolle von Intellektuellen in der DDR, aber auch im gesamtdeutschen Rahmen einbringen, hat Bestand und eignet sich sicher auch für künftige Forschungen dieser Art.

Daß überzeugende wissenschaftliche Ergebnisse stets viel Fleiß und ebensoviel Forschung voraussetzen, ist eine Binsenweisheit. Von Wolfgang Jäger, seit 1982 Ordinarius für Wissenschaftliche Politik, seit 1995 Rektor der Universität Freiburg, und seiner Mitarbeiterin Ingeborg Villinger wurde sie in jedem Fall beherzigt. Ihre „Chronik der Aktivitäten und Debatten der Intellektuellen“ - der zweite Teil der Publikation - ist von großer Überzeugungskraft. Auf 150 Seiten wird jede, auch noch so kleine Stellungnahme von deutschen Intellektuellen über die politische Wende in der DDR und die dadurch möglich gewordene Wiedervereinigung Deutschlands zwischen dem 14. September 1989 und dem 4. November 1990 registriert, kommentiert und systematisiert. Das ist die solide Materialbasis für den wissenschaftlichen Neuwert des gesamten Buches, denn aus ihr ergab sich, wer die Hauptakteure waren und welche Positionen im Detail vertreten wurden.

Der dritte Teil - „III. Verlauf der Debatten der Intellektuellen im Prozeß der deutschen Einheit“ - trägt verallgemeinernden Charakter. „Die Debatten der Intellektuellen - die im Osten von der ,Intelligenz‘, die ,als Schicht, als Klasse im Sozialismus auf dem Weg zur Klassenmacht‘ war, geführt wurden - drehten sich im Herbst 1989 zunächst um eine demokratische Erneuerung des Sozialismus. Sie war die von vielen Intellektuellen in Ost und West bevorzugte Option des ,dritten Weges‘, die jedoch von den Massen nicht mitgetragen wurde. Das heißt, bereits der Auftakt des Umbruchs war dadurch gekennzeichnet, daß die Intellektuellen die Anliegen der Massen und die Massen ,in ihrer unerschütterlichen Skepsis die Parolen der Wortführer einfach ignoriert haben ...“, lautet die wichtigste Verallgemeinerung. „Der Aufbruch und die ,friedliche Revolution‘ gingen von unten, von den Bürgern und nicht von den Intellektuellen aus, die die politisch-soziale Wirklichkeit auch noch angesichts der massenweisen Abwanderung und dem sichtbar maroden Zustand des Staates ihren Ideen unterzuordnen versuchten.“ (S. 215) Daraus ergeben sich die entscheidenden Konsequenzen für die politikwissenschaftlichen Fragestellungen, denen Wolfgang Jäger und Ingeborg Villinger im Teil III nachgehen: „1. Die Revolution, das Volk und die Intellektuellen“, „2. Die DDR und der Sozialismus“ und „3. Von der Wende zur deutschen Einheit“.

Teil IV bietet 12 „Interviews zum Prozeß der deutschen Einheit“. Von Ingeborg Villinger werden (in dieser Reihenfolge) Peter Bender, Günter Grass, Reinhart Koselleck, Christian Graf von Krockow, Günter Kunert, Ernst Nolte, Lutz Rathenow, Uwe Saeger, Pierangelo Schiera, Frank Schirrmacher, Helga Schubert und Hans-Ulrich Wehler interviewt. Daß es sich um sehr persönlich geprägte Sichten und Urteile handelt, braucht hier nicht besonders betont zu werden. Warum gerade diese Auswahl getroffen wurde und keine andere, warum der Anteil von Intellektuellen aus den alten Bundesländern so deutlich überwiegt, wird im Buch nicht behandelt. Oder sollte das eine Begründung sein: „Ein wesentliches Seitenstück im Zuge der Auseinandersetzungen um die innere Annäherung der beiden ,Deutschländer‘ bildete dabei die Frage nach dem Besonderen und Erhaltenswerten der DDR, das in die Kultur der Bundesrepublik eingebracht werden und sie modifizieren könne?“ (S. 217) Wolfgang Jäger, Ingeborg Villinger und die meisten ihrer Interview-Partner geben an vielen Stellen eindeutig zu erkennen, daß sie gerade für diese Frage am wenigstens zu gewinnen sind.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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