Eine Rezension von Klaus Ziermann
Ein Ende zum Erschrecken - mit Ausblick
Hans-Hermann Hertle/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):
Das Ende der SED - Die letzten Tage des Zentralkomitees
Mit einem Vorwort von Peter Steinbach.
Christoph Links Verlag, Berlin 1997, 500 S.
Dieses Buch atmet Geschichte - Historie in gedrängter, angespannter und konzentrierter Form. Das ist nicht verwunderlich, denn das darin dokumentierte historische Geschehen handelt im wahrsten Sinne des Wortes von einem Wendepunkt deutscher Geschichte. Bloß an die Anmerkungen des jungen Karl Marx zur Hegelschen Rechtsphilosophie hat sie sich nicht gehalten: Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie ... Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide. Wer das Buch vom Ende der SED bis zur Seite 500 gelesen hat, dem vergehen Lachen und Heiterkeit. Nicht eine Komödie wird im Haus des Zentralkomitees der SED inszeniert, sondern eher eine Tragödie - ein Ende zum Erschrecken.
Im Hauptteil der Publikation - den Protokollen von der 9., 10., 11. und 12. Tagung des ZK der SED zwischen dem 18. Oktober und dem 3. Dezember 1989 - wird noch einmal der dramatischste Abschnitt der politischen Wende, der den Untergang der DDR besiegelte, lebendig. Speziell auf diesen 400 Seiten waltet nahezu unablässig der Schrecken mit Ende, ehe er auf den Seiten 469 bis 471 im Beitrag Bernhard Quandts noch einem entsetzlichen Tiefpunkt zustrebt.
Die sorgfältig und gewissenhaft aufbereiteten Protokolle von vier ZK-Tagungen sind allein schon eine große Leistung der Herausgeber; sie markieren den hauptsächlichen wissenschaftlichen Neuwert der gesamten Publikation. Immerhin mußte der tatsächliche Verlauf der 9. bis 12. ZK-Tagung authentisch im vollständigen Wortlaut anhand der überlieferten Tonbandaufzeichnungen reproduziert, möglichst jeder Redner und Diskussionsbeitrag ermittelt werden. Nur wer nicht identifiziert werden konnte, erhielt von den Herausgebern ein NN. In der Endkonsequenz ist ein unersetzbares Werk neuerer deutscher Geschichtsaufbereitung entstanden.
Weil der Satz im Referat von Egon Krenz auf der 10. ZK-Tagung Wir befinden uns in einer politischen Krise (S. 186) auf die gesamte Dokumentation zutrifft, kann der objektive Leser der Protokolle das nahende Ende der SED im Herbst 1989 gewissermaßen von innen heraus an vielen Erscheinungen, die ihm der Text vermittelt, verfolgen. Ich denke - um wenigstens stichpunktartig einige der auffälligsten zu benennen - vor allem an:
-die ausgeprägte Demokratieabneigung der SED-Führung, die bereits auf den ersten Seiten anschaulich demonstriert wird und eigentlich alle Sitzungen durchzieht;
-den ökonomischen Niedergang der DDR und ihre immense Auslandsverschuldung von zuletzt mehr als 20 Milliarden, die dem Volk immer wieder verschwiegen wurde;
-den autokratischen Führungsstil in Politbüro und ZK, der durch eine Anpassung der Mitglieder im Denken und eine Feigheit ohnegleichen unterstützt wurde;
-die Unfähigkeit, in einer geschichtlich brisanten Situation, isoliert von der Mehrheit der Bevölkerung und ihrer eigenen, nach Reformen drängenden Parteibasis, erschrocken über die Massendemonstrationen unter der Losung Wir sind das Volk! überhaupt noch eine klare politische Entscheidung zu finden;
-die ungeheure Phrasenhaftigkeit der Sprache, die oft mit einer maßlosen Überbewertung der eigenen Möglichkeiten, mit krassen Fehleinschätzungen, Unglaubwürdigkeit und Verschleiß sozialistischer Ideale einhergeht.
Allerdings lassen die Protokolle auch erkennen, was Vorwort und Herausgeber leider an keiner Stelle andeuten: daß das ZK der SED niemals eine in sich geschlossene politisch-ideologische Einheit war. Es gab offensichtlich mehr innere Machtkämpfe, Reibereien zwischen Sekretären und ZK-Mitgliedern, konservativen und reformbereiten Kräften, als das der Öffentlichkeit bekannt wurde. Und selbst einigen Leuten, die als Versager endeten, gelang es, sich auf Politbüro- und Sekretärsposten hochzuhangeln und sich dort längere Zeit an Machthebeln zu halten, ehe sie kurz vor dem Ende der SED doch noch abgewählt wurden. Auf diesem parteipolitischen Hintergrund nehmen sich die nach Schuld an der Misere und persönlicher Mitverantwortung suchenden Diskussionsbeiträge von Moritz Mebel, Christa Herrmann oder der Anfang des Auftritts von Günter Jahn geradezu wie Ausnahmeerscheinungen aus.
Den Protokollen wurden ein zwölfeinhalb Seiten langes Vorwort Deutsche Systemumbrüche im 20. Jahrhundert von Peter Steinbach und die achtzigseitige Abhandlung Die letzten Tage des Zentralkomitees der SED. Einführung und historischer Überblick aus der Feder von Hans-Hermann Hertle und Gerd-Rüdiger Stephan vorausgeschickt. Es sind im großen und ganzen kenntnisreiche, erläuternde und kommentierende Beiträge, die sich fundiert über das Geschehen im Haus des ZK der SED auslassen. So steht zum Beispiel bei Peter Steinbach über das höchste Parteiorgan der SED zwischen den Parteitagen zu lesen: Dessen Mitglieder und Kandidaten verdankten ihre Position einem besonders austarierten Rekrutierungs- und Machtverteilungssystem. Sie konnten nur Mitglieder des ZK werden, wenn sie das Vertrauen des Generalsekretärs besaßen, und zeichneten sich durch ein politisches Selbstbewußtsein aus, welches Folge der Machtstellung des ZK war. Im ZK trafen sich die entscheidenden Machtträger aus den Bezirken und dem Apparat der Partei. Sie lebten in dem Bewußtsein, weit über jedem Vertreter des Staats- und Verwaltungsapparates zu stehen. Ihnen fiel aber nicht auf, daß die Art ihrer Rekrutierung und die Zusammensetzung des Zentralkomitees eine politisch und funktionale Exklusivität begründete, die das Gremium geradezu unfähig machte, auf Wandlungsprozesse zu reagieren. (S.10)
Sehr genau beschreibt Peter Steinbach, wie die Protagonisten der ZK-Tagungen während der Sitzungen weder wissen noch ahnen, was letztlich auf sie zukommt. (S. 14) Interessant und anregend ist auch seine Einordnung des Untergangs der DDR in die Systemumbrüche des 20.Jahrhunderts - ein geschichtswissenschaftlicher Gegenstand, der, wie er zu Recht vermerkt, sicher noch manche detaillierte Forschung verdient. In vielen Einzelheiten erinnert der ,Untergang der DDR so an das Ende des deutschen Kaiserreiches, denn es wirkten die Träger der alten Gewalten neben den Vertretern der neuen Mächte und waren einem neuen Grundverständnis von Politik ausgesetzt. Neue politische Kraftzentren entstanden neben den alten Machtträgern und waren zunächst gar nicht recht auf den Begriff zu bringen. (S. 9) Allerdings frage ich mich: Bildete das Nebeneinander von Trägern der alten Gewalten und Vertretern der neuen Mächte wirklich das Entscheidende beim Ende der DDR? War da nicht auch etwas in der deutschen Geschichte völlig Neues gescheitert: der vierzigjährige Versuch, in einem Industrieland, das zwei mitverantwortete Weltkriege verloren und den Hitlerfaschismus hervorgebracht hatte, eine menschenwürdige sozialistische Gesellschaft auf der Basis des Volkseigentums aufzubauen? Bestand darin nicht der gravierendste Unterschied zur Weimarer Republik, in der neben den Generälen auch das Privateigentum an Produktionsmitteln, die bürgerlichen Rechtsverhältnisse und vieles mehr weiterexistierten, um schon nach fünfzehn Jahren Adolf Hitler und seinen Nazi-Gefolgsmännern den Weg an die Macht zu ebnen? Der reale Sozialismus der DDR brauchte, um bei Gerd-Rüdiger Stephans Vergleich zu bleiben, auch nicht - wie die Novemberrevolution oder die Bayerische Räterepublik - mit militärischer Gewalt niedergeschlagen zu werden. Ein Hunderter Begrüßungsgeld aus jedem beliebigen westdeutschen Geldinstitut nach der Öffnung der Mauer und die Aussicht, künftig immer harte Westwährung in der Tasche zu haben, genügten in der Endkonsequenz, und die Mehrheit ehemaliger DDR-Bürger verlor den letzten Hauch von sozialistischem Bewußtsein, vergaß die einst so erfolgreiche Wir sind das Volk!-Losung der Massendemonstrationen des Herbstes 1989 und entschied sich - später in Massenarbeitslosigkeit und sozialem Abstieg von vielen bereut - in freier Wahl für die politische Herrschaft der CDU und deren ostdeutsche Ableger. Insofern ist auch die Erleichterung eines Repräsentanten der bürgerlichen Geschichtsschreibung durchaus verständlich, wenn er konstatiert: Galt 1918 noch der Satz: ,Der Kaiser ging, die Generäle blieben, konnte man damals noch von einer Revolution ,zwischen Räten und Geheimräten sprechen, so war der Untergang der DDR und des ,realsozialistischen politischen Systems vollständig. (S. 18)
Eine andere Frage, die mich bewegt, betrifft die Datierung des genauen zeitlichen Endes der SED in dem minutiös exakten historischen Überblick von Hans-Hermann Hertle und Gerd-Rüdiger Stephan. Mit dem Fall der Mauer hatte der SED-Staat bereits seine Existenzgrundlagen verloren, schreiben sie, die Selbstauflösung der zentralen Führungsgremien - des Politbüros, ZK- Sekretariats und Zentralkomitees - besiegelte nun das Ende der SED. Ohne die Steuerungszentrale der Partei zerbröselten die institutionellen Machtstrukturen der DDR. (S. 97) In einem speziellen Ausblick müssen sie jedoch, um nicht den tatsächlichen Geschichtsabläufen zuwiderzuhandeln, darauf verweisen, daß 4 der zuletzt 213 ZK-Mitglieder und ZK-Kandidaten der SED im neuen 101köpfigen Parteivorstand der SED-PDS vertreten waren. Außerdem sei es gelungen, Anträge auf Auflösung und Neugründung der SED zurückzuweisen und den Bestand der Organisation und ihres Vermögens unter dem neuen Namen SED-PDS zu erhalten. (S. 98) Es klingt fast wie Krümelkackerei, ist es aber nicht, wenn ich dieser Logik folge und annehme, daß das Ende der SED genau an dem Tag war, als die Bezeichnung Sozialistische Einheitspartei Deutschlands mit den drei bekannten Kürzeln aus dem endgültigen neuen Parteinamen der PDS und damit auch für immer aus den Annalen der deutschen Geschichte verschwand. Doch verflixte Dialektik: Dann hätten ja Hertle und Stephan in ihrem Ausblick nicht nur feststellen können, daß sich die PDS um den Bestand der SED-Organisation und des SED-Vermögens kümmerte; sie hätten dann konsequenterweise auch dokumentieren oder wenigstens erwähnen müssen, wie sich unter dem Firmenschild von SED-PDS Schritt für Schritt - trotz Mitgliederschwund, Enttäuschungen über den realen Sozialismus in der DDR und politischer Anfeindungen nach der Wiedervereinigung wie seit Adenauers Zeiten - erneut so etwas wie eine legale sozialistische Perspektive in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland profilierte. Denn statt das Ende der SED nach der Auflösung ihres ZK am 3.Dezember 1989 am Polit-Stammtisch ausgiebig feiern zu können, sah sich die politische Führung der Bundesrepublik noch vor der Wiedervereinigung einer Partei des Demokratischen Sozialismus gegenüber, die bereits auf der ersten Seite ihres am 25. Februar 1990 beschlossenen Programms frank und frei erklärte: In dieser Zeit wurde durch den administrativ-zentralistischen Sozialismus eine der größten humanistischen Ideen der Menschheitsgeschichte, die Idee des Sozialismus, in den Schmutz gezogen. Der Begriff Sozialismus ist diskreditiert. Wer ihm anhängt, kommt in den Verdacht, stalinistische Zeiten zurückzuwünschen. So sehr wir das verstehen, es bleibt doch auch Tatsache, daß die sozialistische Ursprungsidee nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat ... Das Angebot an die Menschen, menschlicher und solidarischer miteinander umzugehen, ist aktueller denn je für den Weg in eine gesicherte Zukunft. Das war ein Ding - fürwahr, wo man doch im Bonner Langen Eugen und gegenüber in der Baracke, in den Münchner CSU-Amtsräumen der Franz-Josef-Strauß-Nachfolger, im Karlsruher Bundesverfassungsgericht, beim Verfassungsschutz sowieso, aber auch in den Lehrstühlen und Stiftungen bundesdeutscher Geschichtsschreibung schon längst der Ansicht war, nach dem KPD-Verbot von 1956 und dem Antikommunismus-Beschluß der regierenden SPD unter Kanzler Willy Brandt vom 26. Februar 1971 wäre nun endlich die letzte Hoffnung auf eine sozialistische Gesellschaft für immer aus deutschen Köpfen ausgeräumt.
So aktuell und anregend können gutgemachte Dokumentationen mit Forschungen zur DDR-Gesellschaft sein.