Eine Rezension von Rainer Bert
Foto-Text-Band über ein untergegangenes Schulsystem
Volker Döring:
Fröhlich sein und singen. Schule vor der Wende
Textsammlung Nele Güntheroth. Mit einem Essay von Christoph Dieckmann.
DIETZ VERLAG BERLIN, Berlin 1996, 144 S.
Dem Publizisten Christoph Dieckmann kann durchaus beigepflichtet werden, wenn er in seinen einleitenden Worten, in denen er Erlebnisse, Erfahrungen und Anekdoten seiner eigenen Schulzeit verarbeitet, zu den Fotos schreibt: Sie stammen aus einer Zeit, die sie erinnern lassen; das unterscheidet sie von manch heutiger Retro-Spektive. Dörings Bilder schönen nichts, und sie zerstören nichts über seine eigene Absurdität hinaus. Sie sind ruhig und genau und vollenden sich im erinnernden Betrachter. Das Geschichtsbuch bereichern sie mit Geschichten. (S. 12) In seiner insgesamt sensiblen Einführung entgeht er nicht immer der Gefahr, gängige Klischees über den sozialistischen Schulalltag zu bedienen. So in einer einführenden Szene, als der Direktor den Jungpionier, der Offizier werden will, fragt: Weißt du denn auch, was du als Offizier tun wirst? Der Kleine krähte ins Mikrophon: Ja, ich will Trommler sein bei der Hinrichtung. (S. 6) Auch im weiteren tendiert er in die Richtung, eine durch und durch militarisierte DDR-Volksbildung anzubieten. Wenn er Kants Die Aula zum Propagandaroman degradiert, paßt er sich ebenfalls heute gängigen, undifferenzierten Sichten an.
Insgesamt bietet der Band dennoch ein einfühlsames Bild vom Schulalltag in der DDR, treffend umschrieben mit den Worten zwischen sozialistischer Erziehungsrealität und realer Kindheit. Die beiden Autoren waren früher als Lehrer tätig. Die Bilder stammen von Volker Döring, er hatte bereits vor 1989 in DDR-Zeitschriften (wie z. B. Elternhaus und Schule) das Schulleben dokumentiert und ist seit 1984 als Fotograf tätig. Nele Güntheroth wählte die Textsammlung aus. Sie arbeitet seit 1988 am Berliner Schulmuseum und promovierte über Berliner Schulgeschichte. Autoren und Verlag waren gut beraten, nicht alle Bilder mit Texten zu kommentieren. Sie ordneten die Bilder und abgedruckten Textpassagen zu chronologisch-thematischen Komplexen: Hurra, ich bin ein Schulkind, Pionier zu sein, das fetzt ein, Du hast ja ein Ziel vor den Augen, Lernen für den Sozialismus (ein Inhaltsverzeichnis fehlt leider). Bilder und Text lassen den Betrachter und Leser sowohl schmunzeln als auch nachdenklich werden. Die Textsammlung bietet Zitate und Textausschnitte aus Schulbüchern, Klassenbüchern, -heften und -chroniken, Unterrichtsplänen, Zeugnissen, Pionierzeitungen, Reden auf einschlägigen Kongressen, Verpflichtungen, Gesetzen, Beurteilungen und Klassenarbeiten. Vermittelt werden Themen, Denkweisen und Haltungen, die für die DDR-Schule charakteristisch waren, gezeigt wird auch manches, was nicht unbedingt DDR-typisch war (Abschreiben gehört einfach zur Schule [S. 86, 114]). Man erfährt - bebildert und betextet - inzwischen wieder Vergessenes: Bis zur 4. Klasse konnte jedes Kind nach dem Unterricht im Hort spielen und Hausaufgaben machen ... Schulspeisung: Nicht gerade ein kulinarisches Vergnügen - doch es kostete nur Pfennige ... Preiswert und für kinderreiche Familien ebenso kostenlos wie das Schulessen - der tägliche Viertelliter Milch. (S. 138 ff.) Und auch das Klischee von der nur auf sozialistische Klassen- und Wehrerziehung ausgerichteten Kinder- und Jugendorganisation wird beiseite geräumt: Pionierorganisation und FDJ machten für die Freizeit viele Angebote, die auch für Nichtmitglieder zugänglich waren und von Klassenfeiern über Arbeitsgemeinschaften bis zu ritualisierten Massenveranstaltungen reichten. (S. 60-76) Auch die Tendenz, daß die Bereitschaft zur äußeren Identifikation mit den Symbolen der DDR mit zunehmendem Alter schwand, wird wahrgenommen. Aber stimmt es wirklich, daß die Benutzung von Plastetüten mit Westwerbung als Schultaschenersatz als subversiver Akt galt? (S. 119, 140) Und verwechselt wird offenbar, daß die Schüler am letzten Schultag und nicht - wie hier beschrieben - am Tag der Zeugnisausgabe kostümiert zur Schule erschienen.
Ein Nachtrag zu etwas, das nicht in der Publikation steht: Ein Großteil der hier veröffentlichten Bilder stammt aus einer Schule in Berlin-Prenzlauer Berg, die heute nicht mehr existiert. Sie wurde - hauptsächlich begründet mit angeblich mangelndem Bedarf - gegen den Widerstand der Schüler, Eltern und vieler Lehrer 1990 schnell abgewickelt, ihre Schüler und Lehrer auf andere Schulen aufgeteilt. Auch das gehört zum Schulalltag.
© Edition Luisenstadt, 1998