Eine Rezension von Horst Möller
Höhen und Tiefen griechischer Geschichte
Richard Clogg:
Geschichte Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert
Ein Abriß.
Romiosini Verlag, Köln 1997, 330 S., 52 Bildtafeln, 10 Karten
Am Ende unseres Jahrtausends sind auf dem Balkan die Karten so verteilt, daß die Griechen das weitaus beste Blatt in ihren Händen halten. Griechenland hat eine vergleichsweise starke Wirtschaft und ein stabiles politisches System, ... wurde in den 1990ern zum Hauptfaktor der ausländischen Investitionen in Bulgarien (S. 255) - wo doch die Bulgaren seit jeher als die traditionellen Feinde der Griechen galten (es versteht sich: nach den Türken). Daß sich das Land am südöstlichen Zipfel Europas in einer relativ komfortablen Position befindet, geht aus der Geschichte Griechenlands von Richard Clogg hervor. Sein 1992 in Cambridge erschienener Abriß liegt mit Nachtrag der letzten fünf Jahre jetzt auch auf deutsch vor, und zwar in der kompetenten Übersetzung von Karin E. Seifert und Ioannis Zelepos. Griechische Geschichte ist jedoch alles andere als eine reine Erfolgsgeschichte. Welchen hohen Einsatz und welche unermeßlichen Verluste die letzten zweihundert Jahre gekostet haben, stellt der Verfasser ebenso heraus, wie er die heutigen Unwägbarkeiten aufzeigt. Ohne irgendwelches Drumherumreden geht er auch darauf ein, daß Hellas oft genug dem Poker der Großmächte absolut chancenlos ausgeliefert war.
Indem er sich vom (Neo-)Liberalismus als konstitutivem Moment für das Werden der griechischen Nation leiten läßt, gelingt dem Südosteuropa-Historiker der Universität London eine komplexe und überraschend kritische Sicht auf die zurückliegenden zwei Jahrhunderte hellenischer Geschichte. Tief verwurzelte paternalistische Strukturen, ein aufgeblähter Staatsapparat und die heutzutage besonders eigenartig anmutende, ausgerechnet von der rechtskonservativen Nea Dimokratia gehegte Vorliebe für Staatseigentum stellen sich ihm als Hemmnisse für die gesellschaftliche Erneuerung dar. Wo wie hier Geschichte gewissermaßen von oben betrachtet wird, verschwinden die Defizite einer freiheitlich demokratischen Grundordnung deshalb keinesfalls aus dem Blickfeld. Dieses Buch liefert jedenfalls ausreichend Belege dafür, daß Griechenland an Machtperversion keinen Mangel gelitten hat. Mutterland europäischer Demokratie zu sein verhinderte weder eine Eigenart der Wahlpraxis der regierenden Parteien verschiedenster Couleur, frei nach Belieben das Wahlgesetz zum eigenen Vorteil zu manipulieren (S. 188), noch jene skandalöse Obristendiktatur, die einzige Diktatur, die sich im nichtkommunistischen Europa der Nachkriegszeit etablieren konnte (S. 247). Und mochte die Juntazeit unterm Strich auch zeitweise ein Wirtschaftswachstum mit zunehmender Kapitalakkumulation und erhöhtem Investitionsaufkommen aufweisen, so macht der Verfasser selbstredend nicht ökonomische Kriterien allein für das ordentliche Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren eines modernen Staates geltend. Den fatalen Rückgriff auf die militärische Option der Machtausübung bezeichnet er, wie man mindestens erwarten kann, als seltsam anachronistisch. Auch sonst legt er sich keine Zurückhaltung auf im Urteil, ob an den Schalthebeln griechischer Politik richtig oder verkehrt gesteuert worden ist. Wo ihm allerdings letzte Wahrheiten versagt bleiben, teilt er das mit, ohne sich in Spekulationen zu verlieren. So konstatiert er beispielsweise zum genannten Militärputsch vom 21. 4. 67, daß es keinen Hinweis gibt (S. 203) dafür, daß es die amerikanische Regierung war, von der viele Griechen annahmen, daß sie die Diktatur mit installiert hatte. Alles in allem liefert der Verfasser diejenigen Detailinformationen, durch die Zusammenhänge durchschaubar werden. Nicht zu kurz kommen dabei hintergründige Despektierlichkeiten der folgenden trockenen Art: Im Herbst 1920 starb König Alexander an einer Blutvergiftung, die der Biß eines Affen verursacht hatte. Sein Tod belebte die Frage nach der Verfassung (S. 123). - Sollte man demnach in Zeiten politischen Stillstandes wild gewordene Affen herbeibeten? Richard Clogg bestätigt auf seine Art glänzend das Unvermögen britischer Schule, spannende Szenarien langweilig darzubieten.
Die traditionell engen britisch-griechischen Beziehungen behandelt der Verfasser in gebotener Ausführlichkeit, ohne die höchst wechselvolle Rolle, die sein Land seit jener begeisterten Hingabe eines Lord George Byron (1788-1824) an die griechische Sache gespielt hat, auch nur im geringsten zu beschönigen. Deutlich markiert sind die zahllosen Beispiele für Einmischung in Griechenlands innere Angelegenheiten, berühmt-berüchtigte Übungen von Kanonenboot-Diplomatie, im Stich lassen Griechenlands in der Stunde größter Not, Mißverständnisse, Behinderungen usw. Unter geänderten Vorzeichen ist das wiedergegebene Zitat: Ein in Wahrheit unabhängiges Griechenland ist eine Absurdität. Griechenland kann entweder englisch oder russisch sein, und da es nicht russisch sein darf, muß es notwendigerweise englisch sein (S. 82), keineswegs anachronistisch, obgleich es nicht, wie zu vermuten, von Winston Churchill, sondern aus dem Munde eines britischen Diplomaten des vorigen Jahrhunderts stammt. Und was für die Zeit des siegreich überwundenen Kalten Krieges gegolten hat, nämlich daß in der griechischen Geschichte oftmals die Richtung der Ereignisse durch die Interessen der Großmächte stärker bestimmt werden als durch das, was im Lande selbst geschah (S. 166), ist bislang eigenartigerweise ebensowenig gegenstandslos geworden.
Auf die deutsch-griechischen Beziehungen geht Clogg vornehmlich ein, wenn von ihnen die britischen Interessen berührt werden, wie z. B. während des faschistischen Metaxas-Regimes. Sein diesbezügliches Resümee lautet: Wie auch in anderen Teilen Südosteuropas wuchs der deutsche Einfluß auf die Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1930er sehr rasch, aber das brachte für die Deutschen keinen größeren politischen Einfluß auf Griechenland mit sich. (S. 150) Ganz zwanglos erhebt sich da die Frage, wie es heute um diese Konstellation bestellt ist. Die völlig andere Frage, nämlich auf welche Weise in Griechenland - und in Deutschland selber - das Erbe bewältigt ist, das die einstige deutsche Besetzung verursacht hat, bleibt ausgespart bzw. den deutschen Fachkollegen überantwortet. Was ebendiese grausamen Folgen des Überfalls vom 6. 4. 1941 angeht, ist zu lesen: Die Deutschen ... plünderten die landwirtschaftlichen und - soweit vorhanden - industriellen Ressourcen des Landes und verlangten auf besonders abscheuliche Weise, daß Griechenland für die Kosten der Besatzung aufkam. Ein frühes Ergebnis dieser Politik war die verheerende Hungersnot des Winters 1941/42, die etwa 100 000 Opfer forderte. (S. 154). Die Deutschen verfügten, daß für jeden einzelnen ihrer getöteten Soldaten fünfzig Griechen erschossen werden sollten, und die Zerstörung der Dörfer zur Abschreckung von Widerstandsaktionen war alltäglich. (S. 161) Eine Gesamtzahl der erlittenen Opfer erfährt man leider nicht, die Zahl der ermordeten griechischen Juden wird mit 67 000, was 87% der gesamten jüdischen Bevölkerung des Landes (ebenda) ausmachte, angegeben. Was die Ethniki Antistasi, die nationale Widerstandsbewegung gegen die Besatzungsmächte, betrifft, so ist das Hauptaugenmerk des Verfassers auf deren verwickelte politische Implikationen gerichtet. Eine generelle Würdigung ihres militärstrategischen Beitrages (Verschiebung des Rußlandfeldzuges, so daß die Wehrmacht erst im tiefsten Winter vor die Tore Moskaus und Leningrads gelangte; Bindung umfangreicherer militärischer Kontingente des Feindes; Selbstbefreiung des Landes und Abzug der Deutschen aus Athen am 12. Oktober 1944) unterbleibt.
Geschichtsschreibung, die aufklärerisch zu Werke geht und in mäeutischer Weise hinter dem Einzelgeschehen allgemeingültige Kausalitäten erkennbar macht, vermag ihre Schlaglichter auf Gegenwärtiges zu werfen. In dieser Hinsicht sind aus dem vorliegenden Abriß mannigfache Impulse zu empfangen, was im folgenden an drei Themen von unterschiedlicher Brisanz exemplifiziert werden soll. Werfen wir also einen Blick darauf, welche Besonderheiten es im Laufe der griechischen Geschichte 1. mit Wahlbündnissen bzw. Koalitionen, 2. mit der Asylantenfrage und 3. mit Aussiedlerregelungen gegeben hat.
- Wenngleich Wahlen im allgemeinen selten etwas an den bestehenden Verhältnissen ändern, zeitigten Stimmabgaben im eh und je von politischen Leidenschaften stark bewegten Griechenland bisweilen dennoch Überraschungseffekte. Nach heutigen - und gar hiesigen - Maßstäben mutet es wie aus einer anderen Welt an, daß nach dem Wahlergebnis vom Juni 1989 als letzter Ausweg aus der eingetretenen Pattsituation ein Regierungsbündnis zwischen der Nea Dimokratia unter Mitsotakis und dem Synaspismos unter Florakis zustande kam, das der Verfasser wie folgt charakterisiert: Die kurzzeitige Koalition funktionierte erstaunlich gut, und die direkte Beteiligung der Kommunisten neben den Konservativen in einer Regierung kann tatsächlich als Symbol für die Heilung der Wunden gesehen werden, die durch den Bürgerkrieg vierzig Jahre vorher geschlagen worden waren. Der Versöhnungsprozeß beschleunigte sich auch durch das Verbrennen wenigstens eines Teils der riesigen Masse von Aktenordnern der Sicherheitspolizei, zum Kummer einiger Historiker. (S. 243) Mitinitiator dieses europaweit einzigartigen Rechts-Links-Bündnisses war Mikis Theodorakis, der große Kreter. Als bei den Folgewahlen der abtrünnige linke Komponist (ebenda) nun gleich ganz und gar für die Nea Dimokratia kandidierte, war das eigentlich nur das Indiz dafür, daß in dieser Phase der Erneuerungsprozeß auf dem rechten Flügel am konsequentesten vonstatten ging. Trotz (oder auch infolge) der Übernahme von Regierungsmitverantwortung verringerte sich danach der Stimmenanteil des Synaspismos, des linksgerichteten Parteienbündnisses.
- Für die hierzulande oft sehr einseitig geführten Diskussionen über Einwandererquoten kann Griechenland, das schon immer mehr von Emigration als von Immigration bestimmt war (S. 251), gut und gern ein Korrektiv abgeben. Muß das Land doch seit Anfang 1991 durch den plötzlichen Exodus von Tausenden von albanischen Griechen und von den schätzungsweise 100 000 aus Rußland gekommenen Flüchtlingen, den Nachkommen der Griechen vom Pontos, von denen keinesfalls alle die Sprache ihrer Vorfahren beibehalten hatten (S. 252), mit einer völlig ungewohnten Situation fertig werden. Wenn bis dahin von Auslandsgriechen die Rede war, wurden darunter im wesentlichen die genügsamen, hart arbeitenden und geschäftstüchtigen Migranten verstanden, deren Geldüberweisungen einen Grundbestandteil der griechischen Zahlungsbilanz (S. 93) ausmachten. So haben die Folgen, die das Ende der Systemauseinandersetzung mit sich brachte, nicht nur auf der einen Seite oftmals die Verhältnisse regelrecht auf den Kopf gestellt.
- Was die Regelung von Fragen anlangt, die mit Aussiedelung zusammenhängen, hat das Abkommen von Ankara vom Juni 1930, mit dem eine Periode der Aussöhnung zwischen Griechenland und der Türkei eingeleitet worden war, seine besondere Relevanz. Damals lag das Desaster, in das Griechenland mit seinen Großmachtambitionen geraten war, ganze acht Jahre zurück. Infolge der Kleinasiatischen Katastrophe waren ungefähr 1 100 000 Griechen aus der Türkei zwangsausgesiedelt worden. Sie stießen auf ein hohes Maß an Vorurteilen auf Seiten der Einheimischen, die die Zugezogenen spöttisch unter anderem die Joghurt-Getauften (Jaourtovaptismeni) nannten als Anspielung auf ihre Vorliebe für Joghurt, den sie ausgiebig in ihrer (deutlich besseren) Küche verwendeten. (S. 130) Zu diesen Schwierigkeiten der Assimilation kamen nun noch die Opfer, die die Aussöhnung abforderte. Denn eine Annäherung von seiten Kemal Atatürks konnte nur durch weitreichende Zugeständnisse Griechenlands in Fragen der Entschädigung für den riesigen Immobilienbesitz, den die Flüchtlinge in der Türkei zurückgelassen hatten, erzielt werden (S. 134). Daß eine mißratene Politik irgendwann ihre Konsequenzen nach sich ziehen würde wie hier im Falle Griechenlands, war ohne weiteres auch für den - nach ungleich längerer Frist - zustande gekommenen deutsch-tschechischen Vertrag vorauszusehen gewesen und läßt das nachträgliche Gerangel um dieses Abkommen und seine Erfüllung als durchweg fehl am Platze erscheinen.
Wer Richard Clogg über die Höhen und durch die Tiefen griechischer Geschichte der Neuzeit gefolgt ist, möchte am Ende aus kundigem Munde erfahren, was die Stunde für dieses uralte, liebenswerte, für seinen Beitrag zur Menschheitskultur weitgepriesene Land geschlagen hat. Da sind es ganz eindeutig nicht innen- oder sozialpolitische Schwierigkeiten, die ins Gewicht fallen (Arbeitslosenquoten werden gleich gar nicht ausgewiesen. Der Beitritt zur europäischen Währungsunion ist noch kein Thema), sondern es stehen auch nachdem die Makedonienfrage geklärt ist - die außenpolitischen Belastungen im Vordergrund: Zypernfrage, Verhältnis zur Türkei. Auf Verantwortlichkeiten für die schleppende Behandlung beider Probleme wird vom Autor jedesmal klar hingewiesen.
- Über die Zypernfrage äußert er: Die Zyprer und Griechen verglichen mit Bitterkeit, wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien sich einerseits bei Ausbruch des Golfkriegs verhielten, welche Bedeutung sie dem Thema der Souveränität Kuwaits beimaßen und welche Begeisterung für die Unantastbarkeit der Resolutionen der Vereinten Nationen sie an den Tag legten, mit der Stagnation andrerseits in der Zypernfrage über mehr als fünfzehn Jahre hinweg, die ebenso die Prinzipien der Souveränität und die Durchsetzung von UN-Resolutionen betraf. (S. 252 f.)
- Und über die Krise mit der Türkei von 1996 kommt er zu dem Schluß: Griechenland fühlte, daß seine europäischen Partner es nur unzureichend unterstützt hatten ... Besonders verhängnisvoll an der Krise ... war, daß zum ersten Mal nicht die Abgrenzung der kontinentalen Festlandsockel oder die Ausdehnung der territorialen Hoheitsgewässer oder des Luftraums zur Diskussion stand, sondern Staatsterritorium. Die Konfrontation lieferte eine deutliche Demonstration der Spannungen in der Region, die jederzeit in Feindseligkeiten ausbrechen können, deren Konsequenzen nicht vorhersehbar sind. (S. 261).
Fazit: Bevor ein neues Jahrtausend für Hellas beginnen kann, stehen drängende Gegenwartsprobleme zur Lösung an. Hierfür schärft Richard Clogg das Bewußtsein mit seiner instruktiven, auch didaktisch vorzüglich angelegten und durch einen Anhang mit verschiedenen Kurzbiographien, tabellarischen Übersichten, einer Zeittafel, Hinweisen auf die einschlägige, auch im Deutschen vorhandene Literatur sowie einem Register der Personen- und geographischen Namen und Begriffe allerbestens ausgestatteten Geschichte Griechenlands.