Eine Rezension von Alfred Loesdau
Gewandeltes Verständnis von Ehe und Familie
André Burguière/Christiane Klapisch-Zuber/Françoise Zonabend/Martine Segalen (Hrsg.): Geschichte der Familie
Band 2: Mittelalter.
Campus Verlag, Frankfurt/M. und New York; Édition de la Fondation Maison des Sciences, Paris 1997, 500 S.
Die immerwiederkehrende Diskussion um das Problem der Dauerhaftigkeit familiärer Lebensformen der Gesellschaft beinhaltet naturgemäß Fragen nach der Herkunft und der historischen Entwicklung der Familie sowie der Wandlungen im Verständnis dieser Lebensformen. Bei der vorliegenden Geschichte der Familie im Mittelalter handelt es sich um den zweiten Band einer insgesamt vier Bände umfassenden Geschichte der Familie im Wandel der Zeiten und Kulturkreise (Altertum, Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart).
Die drei erstgenannten Herausgeber(innen) lehren an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (E.H.E.S.S.) in Paris, Mme. Segalen ist die Direktorin des Centre dÉthnologie Française am Centre National de la Recherche Scientifique (C.N.R.S.) in Paris. Die Autoren sind vom C.N.R.S., den Universitäten Lyon und Paris, vom E.H.E.S.S., vom Collège de France und aus Toulouse.
Die Originalausgabe dieses Bandes Histoire de la famille erschien 1986 in Paris. Der Band über die Familie im Mittelalter enthält ein Vorwort des französischen Mediävisten Georges Duby, gliedert sich in neun Kapitel und weist einen Anhang auf (ein Glossar mit wichtigen Begriffen der Familiengeschichte, eine Bibliographie, ein Register und einen Bildnachweis).
Bereits im 19. Jahrhundert befaßten sich Wissenschaftler mit den verschiedenen Erscheinungen von Formen und Strukturen verwandtschaftlicher Beziehungen. Seit vierzig Jahren hat diese Thematik wiederum einen Aufschwung erfahren. Die neuen technischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung forcierten vor allem quantitative Forschungen der Geschichtswissenschaft. So verweist Georges Duby auf die Rolle der historischen Demographie in Frankreich. Hinzu kam der Einfluß von Mentalitätsforschern, Anthropologen und Ethnologen. Das Interesse an derartigen familiengeschichtlichen Untersuchungen basiert heutzutage vor allem auf den gegenwärtigen Wandlungen der sozialen Lebensgewohnheiten, deren Ursachen und Entwicklungstendenzen man durch die historischen Fragestellungen auf den Grund gehen will. Georges Duby vermerkt: Aus dieser Bewußtwerdung heraus hat sich einerseits die nostal- gische Sehnsucht nach ,der verlorenen Welt entwickelt; sie hat das Bemühen verstärkt, die letzten Überreste unseres ,Erbes zu retten, solange es noch Zeit ist, und vor allem Spuren der früheren Familientraditionen zu sammeln, zu inventarisieren und zu klassifizieren. Zum anderen lösen diese tiefgreifenden Veränderungen eine Unruhe aus, die ihrerseits die Sehnsucht nährt, zwischen den Scherben einer sich auflösenden Ordnung vielleicht die ersten Anfänge eines neuen Gefüges zu erkennen. (S. 9)
Die historische Analyse der Familie ist vielschichtig angelegt: Familientypen (Großfamilie, Kernfamilie), spezielle Formen familiärer Entwicklung (Sippe, Klan, Haus), soziale Unterschiede und Mobilität (Adelsfamilien, bäuerliche Familien, städtische Familien, Handwerker), Ehe und Sexualität (die Heirat, das Ehepaar, das Familienleben, die Stellung der Frau, Gefühle, sexuelle Tabus, Ethik), Kinder und Erben (soziale Identität, Väter und Söhne, Nachfolgeregelungen, Adoption, demographische Trends), Verwandtschaftsverhältnisse (patrilineare Modelle, Haushalte, Machtfragen), Familienpolitik und Familienaufassungen (Gesetzgebung, kulturelle Beeinflussung, die Rolle von Staat und Kirche), die Beziehungen zwischen Familie und Produktionsprozeß, Privateigentum, Wirtschaft.
Die ersten vier Kapitel haben die Familiengeschichte in Europa zum Gegenstand: in der Zeit der Völkerwanderungen, unter den Karolingern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert, im Feudalismus vom 11. bis zum 13. Jahrhundert und vom 13. bis zum 15. Jahrhundert.
Ausgehend von den spätrömischen Verwandtschaftsverhältnissen und den frühchristlichen Einstellungen zur Familie, wird die Familie bei den germanischen und anderen barbarischen Völkern untersucht. Vom 8. bis zum 10. Jahrhundert setzte sich in Frankreich, in Deutschland und in Italien offensichtlich die Gattenfamilie (Kernfamilie) durch. Dieser Familientyp steht darum im Mittelpunkt der historischen Analyse. Ab 11. Jahrhundert äußerte sich diese Entwicklung auch in der Herausbildung der Familiennamen. Wenngleich die Familie der lateinischen Christenheit wesentlich durch die gregorianische Reform geprägt war, so schloß das eine große Vielfalt von Bräuchen und Verhaltensmustern nicht aus. Zudem kollidierten die kanonischen Prinzipien nicht selten mit Familienmacht, wirtschaftlichen Zwängen, Erfordernissen des Erbrechts. Die Einheit der Christen kam vor allem darin zum Ausdruck, daß überall dieselben Grenzen der verwandtschaftlichen Exogamie gesetzt waren und ein gemeinsames Modell der Blutsverwandtschaft akzeptiert wurde. (S. 162)
Die nächsten fünf Kapitel des Buches beinhalten Familie und Verwandtschaft in Byzanz, die Familie als Vermittlungsinstanz der Macht in China, Japan als Gesellschaft des Hauses, Weltordnung und Familieninstitution in Indien, die Familie im arabischen Islam.
Spielten Kirche und Religion im Mittelalter durchgängig eine normative Rolle für die Entwicklung von Familie und Familienauffassung, so war eine Spezifik der byzantinischen Entwicklung das Verhältnis der Familie als Sache des Staates und als Angelegenheit der Kirche, insbesondere die Rolle des Klosters für Familienmitglieder.
In China gilt bis ins späte Mittelalter rechtlich die Verwandtschaftsgruppe, worunter die Nachkommen eines gemeinsamen Ururgroßvaters verstanden werden, als Einheit. Die Familien verhältnisse waren im mittelalterlichen China äußerst diffizil. Es werden nahezu dreihundertvierzig Verwandtschaftsbeziehungen (S. 239) konstatiert. Aber auch hier verbringen die meisten Menschen ihr Leben in einer Kernfamilie.
Japan wird als eine Gesellschaft des Hauses charakterisiert: Ein Haus stellte eine erweiterte Familie dar, in der ohne strenge Aufnahmeregeln Personen zusammengefaßt waren, die mehreren Generationen angehörten ... (S. 289)
Die indische Familie - wobei vor allem die Hindu-Familie als typisch angesehen wird - wird als eine Verwandtschaftsgruppe beschrieben, die patrilinear dominiert und individuell differenziert in ihren sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Funktionen ist (S.353ff.). Sie ist oft eine Produktionseinheit und schließlich eine religiöse Gemeinschaft.
Die Familie im arabischen Islam ist kaum erforscht - die Quellensituation erschwert die Untersuchungen beträchtlich. Das entsprechende Kapitel enthält jedoch eine eingehende Analyse des Koran, die - im Vergleich mit der gesellschaftlichen Praxis - interessante Aufschlüsse über die Familienentwicklung im Mittelalter gibt.
Obwohl die Verfasser des Buches überhaupt immense Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Thematik zu überwinden hatten, Schwierigkeiten, die sich aus der spärlichen Quellenlage, insbesondere dem Mangel an schriftlichen Überlieferungen und den zweifelhaften Interpretationen von Gesetzen ergaben, liegt nunmehr eine komplexe Darstellung der Familienentwicklung in ihren spezifischen Erscheinungsformen vor, wenngleich die Autoren von vornherein keinen enzyklopädischen Überblick beabsichtigten. Die vorliegende Darstellung ist für das bessere Verständnis der Ursprünge unserer heutigen gesellschaftlichen Entwicklung unerläßlich. Es ist deutlich geworden, daß es sich bei der Familie um eine kontinuierliche Entwicklungsform der menschlichen Gesellschaft handelt, die - wenngleich sie nicht linear verlaufen ist - bis in unsere Zeit als normativ anzusehen ist.