Eine Rezension von Klaus Ziermann
Ein literaturwissenschaftliches StandardwerkSimone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis:
Jedes Buch ein Abenteuer
Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre.
Zeithistorische Studien. Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e. V. Band 9.
Akademie Verlag, Berlin 1997, 453 S.
Simone Barck, Martina Langermann und Siegfried Lokatis ist mit diesem Buch ein außergewöhnlicher wissenschaftlicher Wurf gelungen: So umfassend, materialreich, detailliert, objektiv in den Wertungen und darum auch so überzeugend in den Schlußfolgerungen hat bislang noch niemand über das Zensur-System in der DDR geschrieben.
Jahrzehntelang hieß es in der DDR offiziell: Zensur habe es im sozialistischen deutschen Staat zu keiner Zeit gegeben. Und selbst wenn auf nichtoffiziellem Wege manches durchsickerte - ein Nichteingeweihter hätte sich das gesamte Ausmaß von DDR-Zensur nur schwer vorstellen können. Nun aber liegt in zehn Kapiteln eine Gesamtschau der staatlichen Zensur in der DDR vor, die durch die Beweiskraft ihrer Aussagen schockiert. Ähnlich wie Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson in den klassischen Krimi-Stories von Arthur Conan Doyle mußten die Autoren die nach der Wende zugänglichen Archive mit größter Akribie durchforschen, um das weitverzweigte DDR-System der Zensur kenntlich machen und dessen Akteure in Aktion zeigen zu können. Allein der erste Teil der Untersuchung stützt sich - nach Aussagen in der Vorbemerkung - auf die Auswertung von etwa 200 Akten aus der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur der DDR und rund 100 weitere Akten zuständiger ZK-Abteilungen (S. 16).
Die geistig-konzeptionelle Mischung des Autorenteams - zwei Literaturwissenschaftlerinnen, die die Verhältnisse in der DDR aus eigener Erfahrung kannten, sie auch schon längere Zeit erforscht hatten, und ein Historiker aus den alten Bundesländern, der nach der Wende in Potsdam ein neues wissenschaftliches Betätigungsfeld fand - hat sich offensichtlich bewährt. Dieses Team ging auch nicht mit vorgefaßten Meinungen an den gewählten Forschungsgegenstand, sondern lobenswert behutsam und kreativ vor: Wie und ob die in der DDR mit und durch Kultur und Kunst ausgebildeten Öffentlichkeiten systemeigene Gesetzmäßigkeiten, Strukturen und Mechanismen ausgebildet haben, inwieweit sie formiert, inszeniert, gesteuert, reglementiert, reduziert und manipuliert waren, kann nur durch empirische Analysen rekonstruiert und bewertet werden (S. 10), lautete ihre produktive Ausgangsposition.
Die Gliederung des Stoffes ist übersichtlich und einleuchtend: Kapitel 1: Vom Amt für Literatur und Verlagswesen zur Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur, Kapitel 2: Die ,ideologische Offensive der SED, die Krise des Literaturapparates 1957/1958 und die Gründung der Abteilung Literatur und Buchwesen, Kapitel 3: Mechanismen der Anpassung und Kontrolle in einer differenzierten Verlagslandschaft, Kapitel 4: Der Aufstieg des Mitteldeutschen Verlages (MDV) auf dem ,Bitterfelder Weg, Kapitel 5: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, Kapitel 6: Der Mitteldeutsche Verlag in den sechziger Jah ren, Kapitel 7: Bücher und Autoren des Mitteldeutschen Verlages in der Öffentlichkeit, Kapitel 8: Veröffentlichungspraxen und Diskussionsstile, Kapitel 9: Dimensionen literaturkritischer Arbeit und Kapitel 10: Öffentlichkeits-Defizite: Tabuisierungen. Eine Nachbemerkung, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Namensregister, erstellt von Stefan Tiepmar, runden das Ganze ab.
Manches, was in Jedes Buch ein Abenteuer zu lesen ist, würde man einfach nicht glauben, wäre es nicht durch exakte Quellenangaben eindeutig belegt. So steht in den internen, aus dem Jahre 1960 stammenden Richtlinien für die Begutachtung von Büchern, ehe sie die Druckgenehmigung erhielten, klipp und klar schwarz auf weiß: Angesichts der Tatsache, daß in den Westzonen ein klerikal-militaristisches Regime die Macht ausübt und mit allen Mitteln, darunter auch ideologischen, den Aufbau der DDR zu stören versucht, sind wir gezwungen, alle Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Literatur, die sich gegen den Aufbau des Sozialismus in der DDR, gegen die Erhaltung des Friedens, gegen die Prinzipien des proletarischen Internationalismus und gegen die Einheit des sozialistischen Lagers ausspricht, antihumanistische und den Marxismus-Leninismus verfälschende revisionistische Literatur, darf in der DDR nicht erscheinen. (S. 192)
Wie die Anwendung dieser Leitsätze in der Verlagspraxis aussah, wird insbesondere an Beispielen aus dem Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale erhärtet - jenes SED-eigenen Verlags, der nach der von Walter Ulbricht persönlich geförderten Bitterfelder Konferenz im April 1959 ins Blickfeld der DDR-Literatur rückte. Bekannte Romanciers wie Fritz R. Fries, Christa Wolf, Erik Neutsch, Irmtraud Morgner, aber auch profilierte DDR-Lyriker wie Volker Braun, Bernd Jentzsch, Sarah und Rainer Kirsch könnten ein Lied von der an ihnen erprobten Zensur singen. Selbst Verfasser von Reportagen, die genau im geistigen Zentrum des Bitterfelder Weges lagen, gerieten - wie Helmut Hauptmann mit seinem Buch Das komplexe Abenteuer Schwedt oder Eberhard Panitz mit seinen Schwedter Porträts Der siebente Sommer - unverzüglich in die Fänge der Zensur, wenn sie DDR-Realitäten und -Konflikte schilderten. Karl Mundstock erging es mit seinen Eisenhüttenstadt-Skizzen sogar noch schlimmer, weil sein Buch führenden Genossen der SED-Spitze nicht ins Konzept paßte: 1970 passierte mein Reportageband Wo der Regenbogen steigt ebenfalls anstandslos die Zensur - und wurde dann auf Weisung des Zentralkomitees der Partei aus den Läden geholt und in den Reißwolf geschmissen. Der Verlagsleiter wurde fristlos entlassen und in die Wüste geschickt. Mir wurde die vollendete Tatsache im Stehen zwischen Tür und Angel mitgeteilt. Die Gründe sind mir bis heute noch nicht eröffnet (worden). Ich habe zwischen Arbeitern gelebt, von ihnen und für sie berichtet, in ihrer unverblümten Sprache, die ja meine Sprache eines Metallarbeiters ist. Tat die grobianische Sprache feinen Ohren weh? Oder die in ihr enthaltene Kritik? (S. 261)
Derartige Beispiele ließen sich leicht erweitern. Sie würden allesamt die Schlußfolgerung untermauern, die Christoph Hein auf dem 10. Schriftstellerkongreß der DDR auf den kürzesten Nenner brachte: Das Genehmigungsverfahren, die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar. Die Nachbemerkung von Simone Barck, Martina Langermann und Siegfried Lokatis - eine Bilanz ihres Buches - liegt auf der gleichen Ebene.
Es ehrt die Autoren, daß sie als Wissenschaftler stets objektiv bleiben, auch dort, wo der Gegenstand sie auf harte und härteste Proben stellt. Damit unterscheiden sie sich von vielen neueren DDR-Interpretationen, die sich durch Einseitigkeit oder primitive geistige Anbiederung hervortun. Simone Barck, Martina Langermann und Siegfried Lokatis haben dergleichen nicht nötig, weil sie sich an die Fakten halten und - zum Beispiel in der differenzierten NDL-Wertung - auch positive Seiten im Rückblick nicht negieren. So ist eine ausgewogene Art von eigentümlicher DDR-Literaturgeschichte entstanden: von der ihrer Zensur. Mehr noch: weil Jedes Buch ein Abenteuer. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre von engagierten Forschern, von Wissenschaftlern mit Verantwortung geschrieben wurde, konnte ein wissenschaftliches Standardwerk von großem Neuwert und Gewicht herauskommen - den besten Traditionen des Akademie Verlags würdig.
Hoffentlich wird es so schnell wie möglich fortgesetzt bis zum Ende der DDR 1990, war mein letzter Gedanke, als ich das Buch aus der Hand legte. Aber wer kann diesem Autorenteam, kaum daß es dem Zensur-Richtlinien-Morast der DDR-Literaturgeschichte in der Ulbricht-Ära entstiegen ist, sofort schon wieder zumuten, sich mit staatlicher Zensur in der Honecker-Ära zu befassen?