Eine Rezension von Hans-Rainer John

Gegen Kastenschranken und Intoleranz

Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge

Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube.

Karl Blessing Verlag, München 1997, 384 S.

Eigentlich erstaunlich, daß dieses autobiographisch gefärbte Erstlingswerk so rasch in die Bestseller-Listen aufgestiegen ist, ist doch die Annäherung für den Leser so einfach nicht. Zwar steht er sofort bewundernd vor einer immensen Sprachbegabung, die ungeheuer poetische Bilder aufs Papier zu zaubern vermag, aber Arundhati Roy erzählt ihre Geschichte von drei Generationen einer Familie syrischer Christen in dem Dorf Ayemenen (Kerala, Südindien), wo auch die Autorin aufgewachsen ist, nicht chronologisch, Steinchen auf Steinchen setzend. Nein, sie springt in der Story, die sich über fünfundzwanzig Jahre erstreckt, munter vor- und rückwärts, läßt sie deshalb oft rätselhaft und unbestimmt erscheinen. Wichtige Ereignisse werden oft auf wenigen Zeilen abgehandelt, aber dann wird die Handlung gleichsam angehalten, und Seiten um Seiten sind allein dem zehnminütigen Warten vor geschlossenen Bahnschranken gewidmet. Auch die Begebenheiten im Hauptereignisjahr 1969 werden durcheinandergewirbelt, zuerst werden die Begräbnisse oder Einäscherungen der Hauptpersonen geschildert, erst sehr viel später die Ereignisse, die zu ihrem Tode geführt haben, und am Ende steht schließlich das Stelldichein des Liebespaares, das Kastenschranken durchbricht und von dem der Leser bereits weiß, daß es tot ist und wie es dazu kam. Die letzten Zeilen - „Sie küßte seine geschlossenen Augen und stand auf. Sie hatte eine vertrocknete Rose im Haar. Sie drehte sich um und sagte es noch einmal: ,Morgen‘.“ - vermitteln die Zuversicht, daß die tödlichen Gesetze, die festlegen, wer wie geliebt werden soll und von wem und wie sehr, nicht mehr ewige Gültigkeit haben werden. Erst wenn man dort angekommen ist, erschließt sich der Reiz der Erzählweise, die kunst- und planvoll gewählt wurde, um eine trist naturalistische Sicht auf die Vorgänge zu vermeiden, und die zu wiederholter Lektüre verlockt.

Der Gott der kleinen Dinge ist zuständig für Unglück von relativer Geringfügigkeit. Er ist unverwüstlich und gleichgültig, hinterläßt keine Spuren im Sand, keine Wellen im Wasser, kein Abbild im Spiegel, ist abgehärtet von der Bestätigung seiner eigenen Belanglosigkeit, denn eigentlich ist nichts sehr wichtig in diesem Land, das für alle Zeiten zwischen dem Terror der Krieges und dem Horror des Friedens belancierte. Da passieren ständig schlimmere Dinge. Das behauptet die Autorin mehr provokant als ernsthaft, denn die Liebe einer Berührbaren zu einem Unberührbaren ist so unvorstellbar wie unmöglich, so daß die Betroffenen um des Fortbestands der traditionellen Ordnung willen geopfert werden müssen. Und natürlich wurde das Buch geschrieben, um Spuren zu hinterlassen, zum Nachdenken über Ammu und Velutha anzuregen und Empörung über ihr Schicksal auszulösen.

Ammu, eine reizvolle junge Frau von 27 Jahren, ist in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie war eine Ehe mit einem Engländer eingegangen, gebar ihm vor sieben Jahren Zwillinge, Rahel und Estha, aber er verfiel dem Alkohol, schlug sie und wollte sie an seinen Chef verramschen. Ammu erzwang die Scheidung, aber eine geschiedene Tochter gilt im Haus ihrer Eltern - der Vater ein pensionierter Entomologe des britischen Empire, die Mutter Betreiberin einer Konservenfabrik, der Bruder Chacko ausgebildet in Oxford, aber unpraktisch und beschränkt - nichts. Sie hat praktisch keine Chance mehr, erntet bestenfalls Mitleid. Ruhelos und ungezähmt ankämpfend gegen das Schicksal der armseligen mannlosen Frau, verbindet sich in ihr die Zärtlichkeit einer Mutter mit der rücksichtslosen Wut eines Kamikazefliegers. Das bringt sie dazu, sich nachts dem Manne hinzugeben, der tagsüber mit ihren Kindern spielt.

Velutha ist ein hochbegabter Schreiner, der auch mit Maschinen umgehen kann, mit Radios, Uhren, Pumpen, ein Klempner und Elektriker mit goldenen Händen, der ständig repariert, schnitzt und konstruiert. Aber er gehört zur Kaste der Paravans. Vor wenigen Jahrzehnten noch mußten diese Unberührbaren mit dem Besen in der Hand rückwärts kriechen und ihre Spuren verwischen, damit Brahmanen und syrische Christen nicht zufällig auf ihren Fußabdruck traten und sich verunreinigten. Es war ihnen verboten, auf öffentlichen Straßen zu gehen, ihre Oberkörper zu bedecken, Regenschirme zu tragen, jemanden anzusprechen, ohne die Hand vor den Mund zu halten (ihr Atem sollte niemanden treffen). Das ist heute schon gemildert. Aber noch immer darf ein Unberührbarer nicht das Haus eines Berührbaren betreten (es sei denn zu einer Dienstleistung), und eine Liebesbeziehung ist das ganz und gar Undenkbare. Und obwohl die Kommunistische Partei Indiens für eine kastenlose Gesellschaft eintritt, ist der Druck der Berührbaren gegen die Gleichberechtigung der Unberührbaren sehr stark, zumal bei einem Mangel an Jobs und starker Konkurrenz.

Als die Schande ruchbar wird, schließt sich die gutbürgerliche Familie zusammen. Velutha wird von der Fabrikherrin gekündigt und bei der Polizei wegen Vergewaltigung verleumdet (die Beamten schlagen ihn ohne Gerichtsverfahren tot wie einen Hund); Ammu wird aus der Familie verstoßen, taumelt entkräftet von einem armseligen Job zum nächsten, bis sie in einem Hotelzimmer verreckt; die Zwillinge werden auseinandergerissen, Estha wird zum leiblichen Vater zurückgeschickt. Aber auch die Familie zerbricht: Vater und Mutter sterben, und Chacko muß, da die Arbeiter die Fabrik belagern und ruinieren, verkaufen und emigrieren. Nach 23 Jahren kehren Rahel und Estha zurück, feiern Wiedersehen ...

Dem Klappentext des Buches, den Presseinformationen des Verlages, den meisten Rezensionen fehlt eine Fabelerzählung. Der Inhalt läßt sich tatsächlich kaum wiedergeben. Im Bemühen, den Reichtum der Gedanken- und Gefühlswelt des Buches, der Sprachgewalt und Ausdrucksfähigkeit der Autorin zu referieren, zerbröselt die Geschichte zur Unkenntlichkeit. Es ist die unsentimentale Art, die poetische, aber vor zupackenden Derbheiten nicht zurückschreckende Weise, die komplizierte, letztlich aber einleuchtende Struktur, in der die Story dargeboten wird, die den Reiz und den Wert des Romans ausmachen. Die Autorin entwirft kein weitgespanntes historisches Panorama, aber anhand der eng umzirkelten Fabel wird das spannungsreiche Gemisch von Kasten und Religionen, die Intoleranz zwischen Arm und Reich, der Terror bornierter Traditionen genauso tief erlebbar wie das politische Erwachen und der soziale Aufbruch bereits ahnbar. („Werden wir ein Kommunist?“ fragte Rahel. „Müssen wir vielleicht“, antwortete Estha, der Pragmatiker.)

Kennzeichnend dafür ist wohl auch die Resonanz des Buches in Indien: Einerseits wurde Roy beim Obersten Gerichtshof von Kerala wegen Obszönität angezeigt (eine Liebesszene, wie spröde auch immer, zwischen so ungleichen Partnern kann in den Augen vieler Traditionalisten gar nicht anders gewertet werden), andererseits wird das leerstehende Familienhaus der Autorin, das im Zentrum der Romanhandlung steht, schon als Museum für Touristen hergerichtet.

Arundhati Roy, geboren 1960, studierte Architektur und schrieb Drehbücher, bevor sie diesen, ihren ersten Roman verfaßte - in englischer Sprache. Ohne viel Hoffnung wurde das Manuskript einem Agenten in London zugespielt. Der setzte sich binnen einer Woche ins Flugzeug und handelte ihr das Manuskript mittels einer sehr hohen Vorschußsumme ab. Sechs Monate nach Veröffentlichung waren bereits 600 000 Exemplare weltweit verkauft, und das Buch wurde mit dem Booker-Preis ausgezeichnet - Großbritanniens bedeutendstem Literaturpreis für englischsprachige Werke aus dem ganzen britischen Commonwealth, der Indien zuletzt 1981 mit Salman Rushdies Mitternachtskinder berücksichtigt hatte. Die Leistung in einer fremden Sprache ist um so höher zu werten, als Roy im Unterschied zu den anderen bekannten indischen Autoren niemals im Ausland gelebt hat. Sie ist ein Kind vom Lande, ihre Muttersprache das südindische Malayalam.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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