Eine Rezension von Haci-Halil Uslucan

Wie erziehe ich meine Kinder?

Thomas Gordon:

Die Neue Familienkonferenz. Kinder erziehen ohne zu strafen

Wilhelm Heyne Verlag, München 1994, 320 S.

Nachdem Thomas Gordon bereits mit seinem früheren Werk Familienkonferenz. Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kindern ein Standardwerk der Eltern- und Erziehungsberatung vorgelegt hat, wird dieser Ansatz in seinem neuen Werk wiederaufgenommen und speziell auf Erziehungsfragen hin weitergeführt. Gordons Ziel in diesem Buch ist es, wirksame Alternativen zur strafenden Erziehung aufzuzeigen und somit der Hilflosigkeit der Eltern und Erzieher entgegenzuwirken, ihnen eine Anleitung zu geben.

Das Buch gliedert sich in zwei große Unterteilungen: „Disziplin“ und „Alternativen zur Disziplin“ und in elf einzelne, inhaltlich aufeinander aufbauende Kapitel.

Im ersten Teil wird die traditionelle, auf das System von Belohnung und Bestrafung (auf Zuckerbrot und Peitsche), auf das Machtgefälle zwischen Erwachsenem und Kind gegründete Erziehung kritisch diskutiert und auf ihre Schwachstellen und letzten Endes auf ihre pädagogische Unwirksamkeit hingewiesen. Dabei ist Gordons Kritik nicht nur moralisch motiviert, etwa, weil es schlecht ist, Kinder zu strafen, sondern sie ist psychologisch motiviert: Er zeigt, daß eine auf Bestrafung basierende Erziehung nicht zu der erwünschten Verhaltensänderung führt, es sei denn, und hier führt der Autor die paradoxe Situation vieler Eltern und Erzieher vor Augen, die Strafe ist hart und schmerzhaft genug. Paradox deshalb, weil viele Erzieher meinen, man müsse hin und wieder die Kinder strafen, aber nicht sehr intensiv. Er läßt sich dagegen von der These leiten, daß Disziplin die am wenigsten wirksame Methode zur Verhaltensänderung sei, nicht nur, daß sie das Verhalten der Kinder nicht ändere, sondern Bestrafungen setzen, so Gordon, bei Kindern Aggressionen, Gewalt und Hyperaktivitäten frei. (S. 26)

Mit seiner Kritik der Bestrafung als pädagogische Haltung rennt der Autor vermutlich bei vielen Erziehern offene Türen ein; interessant ist vielmehr, daß Gordon, nach einer verhaltenstheoretischen Analyse der Wirkung von Verstärkern (Belohnungen), ebenso vehement eine Belohnung des Kindes für gute Leistungen und Taten ablehnt: „Wenn man lobt, besteht immer das Risiko, daß eine Haltung von Überlegenheit mitspielt und daher im Kind das Gefühl der Unterlegenheit bestärkt. Ein Lob ist daher oft ein Akt des Herabsetzens.“ (S.83) Belohnungen, so Gordon weiter, können die Freude, die Motivation an der jeweiligen Handlung selbst untergraben und letzten Endes eher zu Frustrationen führen, und zwar dann, wenn die erwarteten Belohnungen ausbleiben.

In seiner Kritik der Belohnung scheint mir der Autor ein wenig über das Ziel hinauszuschießen; er setzt ein ungeheuer hohes Maß an intrinsischer Motivation, an Interesse am Tun selbst, unabhängig von Belohnung, beim Kind bereits voraus. Dabei kann Belohnung durchaus pädagogisch sinnvoll als Anreiz zu einer Beschäftigung eingesetzt werden und dann sukzessive reduziert werden, wenn sich eine motivierte Haltung des Kindes eingestellt hat.

Seine Alternativvorstellungen bestehen vor allem hierin: Ersetzen von Disziplin durch Selbstdisziplin, Kontrolle seitens Erwachsener durch Selbstkontrolle der Kinder, statt einseitiger Festlegung von Regeln und Grenzen eine gemeinsame Eruierung und Ausarbeitung von Regeln, in der dann die Polarisierung Erwachsene versus Kinder gesprengt wird und der Erziehungsprozeß sich nicht stets in Sieger und Verlierer aufspaltet.

Letzten Endes sind Gordons Bemühungen, in der psychologischen Fachterminologie Maßnahmen zur Schaffung einer internalen Kontrollüberzeugung, eines Wissens, über die jeweilige Situation die Herrschaft zu haben, also Maßnahmen zur Verlegung des „locus of control“ nach innen statt eines fremdgesteuerten Verhaltens.

Theoriegeschichtlich knüpft Gordon an drei klassische Positionen der Psychologie und Philosophie an:

1. Es sind die Untersuchungen Piagets zur Moralentwicklung der Kinder (1932), in denen dieser zeigte, wie sich der Wandel von einer heteronomen, von Eltern und Lehrern diktierten Moralvorstellung durch Kooperation der Kinder in ihrer Entwicklung immer mehr einer autonomen, auf Gegenseitigkeit gegründeten Moralvorstellung vollzieht.

2. Philosophiehistorisch stellt sich Gordons Arbeit als eine Fortführung der Intentionen des großen amerikanischen Philosophen John Dewey dar, besonders seiner Erziehungstheorie, wie sie Dewey in Demokratie und Erziehung (1916) ausgearbeitet hat.

3. In psychotherapeutischer Hinsicht ist Gordon der humanistischen Therapie seines Lehrers Carl Rogers verpflichtet, in der das Wachstum, die Persönlichkeitsbildung, die Selbstverwirklichung als das Ziel therapeutischen Bemühens gesehen wird.

An einigen Stellen neigt der Autor leider zu pauschalen Polarisierungen und zu Verallgemeinerungen, wie etwa, daß Kinder, die sich der elterlichen Autorität sanftmütig unterworfen haben, später zu Rebellen oder Kriminellen werden etc., oder er schießt weit über das Ziel hinaus, wenn er sich zu folgenden Generalisierungen hinreißen läßt: „Da die Disziplinierung mittels Strafen Kinder emotional schädigt, folgt daraus, daß sie letztendlich der Gesellschaft schadet: Kranke Kinder wachsen zu emotional verkrüppelten, unproduktiven, antisozialen und oft gewalttätigen Bürgern heran.“ (S. 135)

Hierbei ist nun keineswegs ein direkter Kausalmechanismus wirksam, wie ihn Gordon unterstellt: Gerade viele Erwachsene versuchen ja aus den eigenen schädlichen Erfahrungen heraus später Bedingungen zu schaffen, in die andere Kinder nicht involviert werden sollen. Hier wären genauere Bedingungszusammenhänge nötig.

Aber dieses Werk versteht sich nicht als eine wissenschaftliche Studie, sondern vielmehr als eine Anweisung, als ein Ratgeber für Eltern und Erzieher in Konfliktsituationen. Das Buch macht ernst mit dem Gedanken, daß Erziehung nur in einem demokratischen Klima von Gleichberechtigten erfolgen kann; denn wo erzieherische Verfügungen auf ein Machtgefälle zwischen dem Erwachsenen und dem Kind zurückzuführen sind, haben die Maximen nur so lange Aussicht auf Befolgung, solange die externe Kontrolle auf den Kindern waltet. Sie ist im Schwinden begriffen, wenn Erzieher nicht mehr über dieses Mittel allein (körperliche Stärke, Geld etc.) verfügen, wenn ihnen ihre Belohnungen und Bestrafungen mit der Zeit ausgehen.

Gordons Buch ist ein leicht lesbares Werk, das in dem zeitgenössischen Diskurs über den Werteverfall bei der Jugend und neokonservativem Bemühen nach Drill und Disziplin unerschrocken „alte“, demokratische Tugenden und Praktiken anbietet. Die Beispiele, die er wählt, sind aus einem vertrauten lebensweltlichen Kontext, so daß die Übertragbarkeit für Erzieher und Eltern auf die eigene Praxis stets gegeben ist.

Ein Buch, das allen Kindern zu empfehlen ist, damit sie es, im wohlverstandenen Eigeninteresse, ihren Eltern schenken können. Darüber hinaus aber auch allen professionellen und weniger professionellen Erziehern, Lehrern, Eltern und auch solchen, die es werden wollen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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