Eine Rezension von Manfred Lemaire
Arme geheimnisvolle Welt
Michael Doane: Blinde Zeugen
Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt.
ECON Taschenbuch Verlag, Düsseldorf 1996, 376 S.
Ein Amerikaner in Paris. Thomas Zane, Sohn einer in den USA lebenslang einsitzenden Terroristin, arbeitet für ABRI, französisch Zuflucht, eine fiktive Menschenrechts- und Hilfsorganisation. Keine glänzende, berühmte, potente, sondern eine kleine, zweit- oder drittrangige Agentur mit einer Handvoll Angestellten und geringen Spendeneinnahmen.
Der Autor verteilt die Beschreibung von ABRI über das Buch, man erfährt allmählich dies und das von den Vorgängen in dieser geheimnisvollen Welt mit Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten ähnlichen Unternehmen, denen schon ein spektakulärer Erfolg fürs finanzielle Überleben genügt. Man erfährt, wie in Paris, der traditionellen Emigrantenstadt und Exilantenbleibe mit besonderer Nähe zu Afrika, Nahost und Osteuropa, das bitterernste Spiel mit politischem Hintergrund gespielt wird: Hilfe für Menschen in Not, für unschuldig Verfolgte, die im eigenen Land keinen Beistand finden.
Zane gehört zu den Helfern, die von relativ kleinem Salär und mühsam erreichten Ergebnissen existieren, an denen sie sich aufrichten, um auch dann weiterzumachen, wenn beispielsweise ein zunächst Geretteter wieder hinter Gitter und plötzlich zu Tode kommt. Die der Öffentlichkeit weitgehend verborgenen Helfer leben von der Spannung, die sich aus der Suche nach den Verfolgern ebenso ergibt wie aus dem Einsatz für jene, die in die Mühle eines der vielen Diktatoren geraten sind. Oft ist es eine ausschließlich durch Recherchen und anklagende Bulletins bestrittene Arbeit, deren Resultate den Nachrichtenagenturen und Medien zugänglich gemacht werden.
Mit Diktaturen und Diktatoren jeden Kalibers ist Afrika besonders bestückt, das Arbeitsfeld des Thomas Zane. Er durchforstet es mit Hilfe seiner Rakers, freiwilliger Agenten, die neben ihrem bürgerlichen Job nach Informationen harken und sie - oft über abenteuerliche Zwischenstationen - an Z weitergeben und nur an ihn. Der sitzt wie eine Spinne im Netz am Bildschirm, der Tag und Nacht auf Empfang geschaltet ist, und versucht, aus einkommenden Nachrichten die Wahrheit zu saugen. Dubios, seriös oder sensationell erscheinende Informationen müssen verifiziert, durch eine zweite Quelle gesichert werden. Um die eingehenden und gesendeten Mitteilungen vor unbefugten Mitlesern zu schützen, hat Z für seine Rakers, die Harkers, eine besondere Sprache erschaffen, Zanespeak. Mit ihrer Hilfe und einer beachtlichen Computerinstallation holt er sich seine Erkenntnisse auf den Bildschirm.
Die geheimnisvolle, weitgehend unbekannte Welt, die sich dem Leser erschließt, ist frei von Thriller-Klischees. Zane, seine Mitstreiter und Helfer haben weder Revolver noch Pistolen noch Klappmesser oder Giftspritzen. Ganz im Gegensatz zu den dunklen Gestalten auf schnellen Mopeds, die in den Straßen von Paris plötzlich hinter Z her sind, weil er einen verschwundenen Freund und Raker sucht. Der weiß zu viel über einen afrikanischen Terroristen, der einst Schriftsteller war und Folteropfer wurde, sowie über einen weißen sadistischen Arzt. Dieser zunächst gesichtslose Arzt, Gehilfe jedweder Diktatoren und Söldnerführer, bringt auch jene zum Reden, die einer üblichen Folter widerstehen, und leistet zynisch Sterbehilfe, wenn sie nur noch ein Bündel zerstörtes Fleisch sind.
Der Autor verzichtet auf reißerische Schilderung, begnügt sich gekonnt mit Andeutungen, fast sachlich wirkenden Mitteilungen. Sie werden durch die Phantasie des Lesers zu deutlichen Bildern. Die Gestalt des Z und andere wichtige Figuren des Buches gewinnen nach und nach Konturen, aus Biographie-Bruchstücken, wie unabsichtlich eingestreut, aus Halbsätzen, einzelnen Worten, Hinweisen auf Eigenheiten, Angewohnheiten, Reaktionen. Hier wird Unterhaltungslektüre von literarischer Qualität geboten, die durchaus den Hinweis auf Graham Greene rechtfertigt.
Bemerkenswert nicht zuletzt, daß die Leute von ABRI als Anti-Helden angelegt sind, als Individualisten mit kleinen oder größeren Fehlern, zu denen bei Z die Liebe zum Whisky gehört. Sie sind, jeder auf eine andere Art, ein wenig kaputte Typen, denen man dennoch Achtung zollen muß oder sogar Sympathie entgegenbringen kann. Alles in allem bleibt die Welt der Helfer und der Opfer, denen allzuoft nicht geholfen werden kann, eine arme geheimnisvolle Welt. Eine schlimme und zugleich merkwürdig tröstliche Form lernt der Leser schließlich in einem afrikanischen Dorf voller Blinder und Halbblinder voller Solidarität und gegenseitiger Hilfe kennen, wo Z seinen Freund wiederfindet.
Wer in der Welt der Computer nicht zu Hause ist, begreift zwar kaum jede Operation, die Z und andere, Freunde und Feinde, ausführen. Begreifen aber kann man, warum diese unsouveränen Helfer für Menschen in Not eine Arbeit tun, die ihren Lohn in sich trägt. Ein Buch, das im Gedächtnis bleibt.