Eine Rezension von Bernd Heimberger
DDR - 1058 Berlin (Prenzlauer Berg) - eine poetische Provinz
Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft
Literatur aus der DDR in den 80er Jahren.
Lukas Verlag, Berlin 1997, 299 S.
O Gott, mein Gott, was ist nicht alles die Literatur der DDR! Von Bruno Apitz Nackt unter Wölfen bis Arnold Zweigs Traum ist teuer. Von den Texten des Sascha Anderson bis zu denen von Ulrich Zieger. Um das Ganze zu überschauen, muß alles noch einmal genauer angesehen werden. Um dann auch den Satz zu begreifen, den ich Ende der siebziger Jahre im Kreis der Literatur zirkulieren ließ: Die DDR-Literatur wäre nicht, wie die DDR-Literatur ist, wenn die DDR-Literatur wäre, wie die DDR-Literaten sind! Der Satz machte die Runde, als sich die Ansiedlungen in 1058 Berlin häuften und die Einrichtung des Reservats Prenzlauer Berg begann. Eine neue Generation von Autoren, der die Wirklichkeit und Wahrheit der DDR nur Unwirklichkeit und Unwahrheit war, reichte ihre mehr oder weniger schmalen Schnellhefter herum. Im Fremden waren die Prenzlauer-Berg-Dichter Fremde. Sie waren bekannte Unbekannte im Lande. Unbekannt auch in Redaktionsstuben wie in den Räumen der Germanisten.
Um so schöner - geschönter? - liest sich das, was der Germanist Peter Böthig über den 1966 geborenen Johannes Jansen sagt. Nämlich, daß er bereits zu DDR-Zeiten bekannt geworden war. Ja, bitt schön, wem denn? Zu DDR-Zeiten bekannt bedeutete nicht, in der DDR bekannt. Nicht in der offiziellen DDR. Nicht der Öffentlichkeit. Lassen wir die Endjahre der DDR unberücksichtigt. Als sich ein Teil der Prenzlauer Berger medienwirksam - oder nicht - gen Westen verdrückte. Als ein Teil in der Alibi-Buchreihe des Aufbau-Verlages Außer der Reihe auftauchte.
Das bundesdeutsche Feuilleton hat der poetischen Provinz Prenzlauer Berg die Korsettstangen eingezogen. Die Literaturgeschichte errichtet nun eine Mauer um sie. Der Prenzlauer Berg war kein Programm und hatte keines. Der Prenzlauer Berg produzierte keine Prenzlauer-Berg-Poetologie. Poetologien waren so unterschiedlich, wie der Daumenabdruck der Menschen unterschiedlich ist. Die Literatur war eine, die die offizielle, veröffentlichte DDR- Literatur nicht kümmerte, um die sich die offizielle, öffentliche Literaturgesellschaft der DDR nicht kümmerte. Eine verwirrend verwickelte Angelegenheit!
Der Literaturwissenschaftler Peter Böthig, Jahrgang 1958, bescheinigt: Das Bild der DDR-Literatur liegt in Scherben ... Mag dem Akademiker auch die Metapher mißlungen sein, sein Versuch, den Scherbenhaufen zu sichten, ist so redlich wie wichtig. Wissend, daß die Unübersichtlichkeit nach 1989 eher zugenommen hat, kommt er gar nicht erst auf den Gedanken, das Gefäß zu kitten. Böthig sortiert die Scherben. - Verlogen wäre es zu behaupten, die gesamte Sprachwissenschaft der DDR hätte die Sprachakrobaten des Prenzlauer Bergs ignoriert. Obwohl älter, war der Slawist Fritz Mierau nicht nur moralischer Beistand. Wie kein anderer Akademiker war jedoch Böthig mittendrin in der Szene seiner Altersgenossen. Ohne den Anspruch auf die Position des Theoretikers zu erheben. In der Nähe Distanz zu wahren zahlte sich für die theoretische Annäherung aus. Auch, als Böthig begann, seine Dissertation zu schreiben. Die 1994 abgeschlossene Arbeit gibt das Material für den Band Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren her. Die veröffentlichte Publikation ist Dissertationsschrift, Sachbuch, Dokumentation. Ist ein Materialbuch, das Inhalte zu dem liefert, was der Begriff Prenzlauer Berg zusammenfaßt. Der Titel deutet Weite an, die nicht beabsichtigt ist. Der Untertitel deutet Einschränkungen an, an die sich der Autor nicht hält. Trotz inhaltlicher Anreicherung, der zeitlichen Weiterführung, des dokumentarischen Teils ist Böthigs Buch keine populärwissenschaftliche Schrift. Ambitionierte akademische Analysen drängen das Unkonventionelle, also den Prenzlauer Berg, in das Konventionelle rhetorischer, theoretischer Überlegungen. Das Nichtöffentliche, also der Prenzlauer Berg, wird auch so nicht öffentlich. Einmal Reservat - immer Reservat?
es geht nicht um geheimnisse, alles liegt offen zu tage, schrieb Böthig bereits im Herbst 1987 in einer Prenzlauer-Berg-Publikation, in der Heftedition SCHADEN. Der Satz mußte stutzig machen. Wie die Bemerkung, daß SCHADEN ein kollektiv-unternehmen war. Was ist kollektiv, wo der Ehrgeiz jedes Individuums knistert, brennt, lodert? Was lag im Prenzlauer Berg offen zu tage? Das Reservat war, was es am wenigsten wollte, im Wechselspiel mit dem Umland. Es hatte seine Hierarchie. Hatte seine Könige, seine Bauern, seine Spitzel. Mit der Besonderheit, daß Könige gleichzeitig Spitzel waren. Das wußte man nicht. Wollte man nicht wissen. Geäußerte Ahnungen wurden zurückgewiesen. Geheimnisse waren genug. Nur wer mit Geheimnissen lebt, lebt angenehm. Das war im Prenzlauer Berg nicht anders. Ob tatsächlich jetzt alle Geheimnisse offen zu tage liegen, da alle Tage die Akten offen liegen? Zu den Geheimnissen des Spiels zwischen Spitzel und Auftraggeber hat Böthig schon mehr geäußert. In dem gemeinsam mit Klaus Michael publizierten Band MachtSpiele. Über die Macht des menschlichen Spieltriebs, der so vieles im Prenzlauer Berg aus- und möglich machte, ist nicht annähernd Ausreichendes gesagt. Die Dokumente im Buch legen offen. Die Geheimnisse sieht man nicht. Sie sind in den Beteiligten, über die geredet, geurteilt, gerichtet wird. Der Autor redet, urteilt, richtet. Redet, urteilt, richtet er, dann vom besseren Anhaltspunkt und mit den besseren Argumenten. Im Gegensatz zu den meisten publizistischen Mitstreitern. Böthig redet nicht über etwas. Er redet vom Ursprung, von den Ursachen, von der Wirkung eines Winkels der Literatur der DDR. Er kann aufzeigen und aufbewahren, was er als Augenzeuge wahrnahm. Kann er der aufbewahrende Aufzeiger sein und bleiben, was die wertende Wissenschaftsarbeit eher verhindert, ist er wesentlicher und substantieller. Auch als andere. Der Augenzeuge kann nicht die Scheuklappen der Akademiker und Feuilletonisten anlegen, die aus dem Prenzlauer Berg das gemacht haben, was er nie war, eine Veranstaltung für Akademiker und Feuilletonisten. Im Rimbaudschen Sinne entgrenzt Böthig, was sich abgrenzte und, von wem auch immer, eingekreist wurde: der Prenzlauer Berg. So bekommen Betrachtung und Bericht die Differenzierung, auf die die Darstellung der Literatur angewiesen ist, die nun unumstößlich in die Annalen als Prenzlauer-Berg-Literatur eingetragen ist und die die Literatur in der DDR differenziert wie keine andere. Das Differenzieren der DDR-Literatur als Revolte zu deklarieren wäre kühn. Obwohl das Differenzieren in der DDR leicht und leichtfertig mit Revolte verwechselt wurde. Das berücksichtigend, ist das Buch von Peter Böthig ein Buch über eine unrevolutionäre Revolte, die die Prenzlauer-Berg-Autoren probten wie der Einzelkämpfer Biermann, der manchem auf dem Berg den Rücken stärkte. Nicht die autonomen Dichter denunzierten und diskreditierten die DDR. Die souveräne DDR denunzierte und diskreditierte die Dichter. Wie die dichtenden Denunzianten aus den eigenen Reihen. Denunzianten und Diskreditierer unterminierten und sprengten die DDR. Nicht die jungen Leute aus der DDR, die in die literarische Landschaft Prenzlauer Berg emigrierten. Das sind Schlußfolgerungen, die die Publikation zulassen. Von jedermann, obwohl das Buch nicht für jedermann ist. Eine Frage drängt sich auf: Wer, verdammt, soll das lesen? Natürlich alle, die zur Szene gehörten. Sie können Peter Böthig bestätigen, wie gründlich er im Sammeln, Sichten und Sagen gewesen ist. Darauf kommt es auch künftig an, damit die unübersichtliche Literatur der DDR übersichtlich wird und somit die historische Wahrheit wahrer. O Gott, mein Gott, was war nicht alles die Literatur der DDR!