Eine Rezension von Helmut Hirsch
Die Vergangenheit fängt immer sofort an"
Jürgen Becker: Der fehlende Rest
Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997, 156 S.
Daß Jürgen Becker vor allem Gedichte geschrieben hat, ist dieser Erzählung sofort anzumerken. Immer ist er auf der Suche nach den entschwundenen Bildern aus der Kindheit. Und er ist, während der gesamten Erzählzeit dieser Erzählung, mit sich allein. Das ist die größte, die schwierigste Situation, die nur vorstellbar ist. In einem abgelegenen, eingeschneiten Bauernhaus im Bergischen Land sitzt der Erzähler, hoffend, alles beisammenzuhaben, was zum Erzählen nötig ist. Vor sich das weiße Papier, auf dem stehen soll, was weit zurückliegt. Sehr anschaulich wird zuerst erzählt, wie das Erzählen selbst in Gang kommt. Erfunden wird Jörn, das Ich-Gegenüber, die jüngere Figur des Erzählers selbst, vielleicht das Ohr, in das gesprochen werden muß. Auch dies erinnert stark an den Lyriker, der zwischen sich und dem Leser noch die Figur seiner Erfindung, dem Erlebten nahe, setzt. Jürgen Becker erzählt nicht nur seine Geschichte, die in viele Geschichten und Bilder zerfällt. Er zeigt im Fluß des Erzählens auch, worum es ihm geht, wie er sich all dem, was er zu erinnern bemüht, nähert. Einmal heißt es: Es geht ja auch um das Suchen nach Erinnerungen, die sich auf Empfindungen, auf Gefühle richten, und das ist so schwierig, weil Empfindungen und Gefühle, die nur auf inneren Schauplätzen, irgendwo zwischen Kopf und Herz, auftreten, erst erkennbar werden, wenn sie in einer Beziehung zu, ja vor allem zu Personen stehen, zu Erlebnissen, zu Dingen auch, Gegenständen, Zeiten und Orten. Den Erzähler bewegt die Frage, die sich jeder Mensch stellt: Was bleibt von der Vergangenheit? Doch wer diese Frage stellt, kann ihr nicht mehr entkommen, denn, spricht der Erzähler zu Jörn (zu sich und zum Leser): Nicht wahr, es ist wie ein Fluch, diese Art des Erinnerns, dieses Festhalten von Bildern, die den Blick aufs Heute und Jetzt verstellen.
Jörn ist Fotograf, weiß also um die Macht der Bilder, weiß, daß der vorbeifließende, auf Film gebannte Augenblick Leben nicht nur abbildet, sondern auch konserviert. Viel komplizierter aber arbeitet das Gedächtnis. So wird eine Szene erinnert, bei der sich der Junge, während er Feuer entzündete, verbrannte. Aus einer Ungeschicklichkeit, er hatte die ihm vom Vater eingebleute Regel, ein Streichholz grundsätzlich vom Körper weg und immer nur zum Brennstoff hin anzuzünden, mißachtet. Zurück blieb damals ein roter Streifen Fleisch, doch jetzt, und die Szene wird ausgemalt, ist an jener Stelle nicht einmal mehr eine Narbe zu sehen.
Was heißt das? Im Erinnern ist der Erzähler dem einstigen Erlebnis oder Ereignis viel näher als dessen Folgen. Im Erinnern wird Geschichte nicht nur eingeholt, sondern auch übersprungen. Es ist noch verzwickter. Die Dichte der erinnerten Vergangenheit nimmt einerseits zu, wie gleichzeitig auch das Vergessen zunimmt. Es helfen immer wieder die Gefühle, die ja das Erinnern bei jedem Menschen heftig in Schwung bringen können. Jürgen Beckers Erinnerungsversuche können an den verschiedensten Orten stattfinden. Es gibt ein paar Gefühle (Grunderfahrungen des Ichs), die bleibend sind: Schulwanderungen, Familienausflüge, Spaziergänge mit Mädchen, Radtouren und Fahrten im Geländewagen, sie hatten in ihm Gefühle hinterlassen, die er noch in fernsten Gegenden, plötzlich, anfallweise, als Heimweh empfand.
Der fehlende Rest ist eine autobiographische Erzählung. Becker träumt sich zurück an die Orte der Kindheit, er sucht Landschaften in Thüringen, am Rhein, in Erfurt oder in Berlin wieder in das deutliche Bild der Wahrnehmung zu bekommen. Er läuft Unter den Linden in diesen Jahren, geht, von der Museumsinsel kommend, am Spreeufer entlang und erreicht die Schloßbrücke. Plötzlich nimmt er die Barockfassade des Zeughauses wahr, wird zögerlich: Jeder Schritt, das wußte ich in diesem Moment, würde jetzt in ein Déjà-vu führen und mich in diesen Zustand versetzen, der einem alle Dinge und Geschehnisse merkwürdig bekannt, wie schon einmal wahrgenommen und erlebt, vorkommen läßt.
Ein Zustand, der in dieser Erzählung oft wiederkehrt, immer aber nur wenige Augenblicke anhält. Es scheint, als stünden sich einstige und neue Erlebnisse gegenüber, unvereinbar, unauflösbar. Jürgen Becker nennt es so: Der Schein des Wiedererlebens hat sich dann nicht in die Gewißheit verwandelt, das Wahrgenommene tatsächlich einmal als Wirklichkeit erfahren zu haben ... Gerade in fremder Umgebung, in einer Straße, etwa in einer Stadt, wo man nie war, stellt sich ja, und ohne daß er sich erklärte, dieser Zustand oft ein. Am Spreeufer entstand eher das Gefühl, etwas Vergangenes kehre zu mir, nein, nicht unmittelbar zu meinem augenblicklichen Ich, sondern zu dem Jungen zurück, der damals in einem Kriegssommer am Spreeufer um die Ecke bog und vor einem Portal stand, das ... ins Zeughaus führte.
Ist der Moment des Erkennens und auch der Verwunderung groß genug, bringt die Erinnerung lebendige Bilder zurück. Die architektonische Gestalt des Zeughauses zeigt deutliche Bilder im Gedächtnis an. Bilderreste werden freigelegt, und mit diesem Vollzug kam auch etwas vom Staunen, vom Eingeschüchtertsein, das der kleine Junge, dem gerade die Dimension von Stadtrand und Dorf vertraut waren, inmitten breiter Ausdehnungen und hohen, mächtigen Gesteins empfunden hatte.
Erinnern bringt Bilder und einstige Empfindungen hervor, zugleich befördert es unaufhörlich die schmerzliche Erfahrung, daß nicht nur die einstigen Erlebnisse vergehen, sondern auch die Erinnerungen daran. Denn sie allein sind gebunden an Menschen, die sich des Vergangenen noch zu erinnern vermögen. Diese Erfahrung gibt Jürgen Beckers Erzählung ein melancholisches Fluidum. Die Mühle, in der der Junge noch die Kornsäcke vom Fuhrwerk mit abgeladen hatte, gibt es schon längst nicht mehr, aber Jörn erinnert sich noch daran. Zugleich weiß er, schmerzlich ist es ihm bewußt: Und es gibt in ein paar Jahren auch niemanden mehr, der noch weiß, daß es die Mühle einmal gegeben hat, vier Jahrhunderte lang.
Den Kopf voller Bilder, Klänge, Gegenstände, Geräusche und Wörter, um das schwarze Nichts aufzuhellen, wird vom Erzähler die Erfahrung gemacht, daß alles nur Chaos, Gewimmel und Unübersichtlichkeit sei. Gewißheiten kommen, werden zwar deutlich und bildlich genug, doch sie verflüchtigen sich wieder, am ehesten noch im Wort, im Satz, im Kontext der Erzählung zu bannen. Beschriebene und unbeschriebene Seiten, sie alle erzählen vom Verschwundenen, vom Vergessen, sie demonstrieren geradezu die Ausdehnung eines Schweigens, das die vom Gedächtnis unbewohnten Räume durchzieht.
Der fehlende Rest ist ein gut gewählter Titel. Denn im Dunkel der Erinnerungen klaffen Lücken, entstehen geheimnisvolle Räume, die von Phantasie zwar, nicht aber von wirklichen Erlebnissen aufgefüllt werden können. Und das ist der fehlende Rest, der erahnbar ist, vorstellbar durch das Gestrüpp der Erinnerungen.
Der Text des Buches erforscht die Geheimnisse des Jungen Jörn. Denn in seiner Kindheit gab es genug Dinge, von denen er nichts hören sollte, die er nicht kennen durfte, wofür er auch keine Wörter hatte, um sich sagen zu können: Ich weiß genau, was ich weiß. Immer nur die Schatten von etwas, das selber unerkannt blieb.
Aber dieser schnelle Schwund des Lebendigen ist nicht an weit zurückliegende Ereignisse allein gebunden. Der Erzähler beobachtet seine Katze, wie sie von der Lehne des Korbstuhls springt. Und er kommentiert: Das ist nun alles schon wieder Vergangenheit. Zurückliegendes ist seltsamerweise oft näher als unmittelbar gerade Vergangenes. Was geschah zum Beispiel in der letzten Stunde? Da wird es schwierig, dann kommt dir dein Kopf plötzlich wie ein Sieb vor, durch das die Augenblicke rasch und unaufhörlich verrinnen. Und du weißt: die Vergangenheit fängt immer sofort an.
Vieles in dieser Erzählung hält den Zauber des selbst erlebten Wunderbaren fest. Früher hat man doch auch von früher erzählt, also: Die Wirkungen des Erzählens sind unauslöschbar, solange sich der Mensch erinnert. Früher, auch das wird poesiereich mitgeteilt, waren auch die Tage viel länger. Weil man mehr erlebte. Weil es häufiger vorkam, daß man zum Apfelbaum in Großmutters Garten ging. Auch später noch, fern vom Garten der Kindheit, erreichen den Erzähler die Äpfel aus Großmutters Garten. Aber nichts bleibt, nur die Erinnerung: Zu den Verlusten nach ihrem Tod zählte auch das Verschwinden des Apfelbaums.
Was kann man gegen den Verlust der vergehenden Zeit tun? Jürgen Becker setzt aufs Erinnern immerzu. Auch um den Preis, daß das gegenwärtige Leben bedeutungslos werden kann. Er stellt sich vor: Selber ein Teil des Hauses zu sein, einer dieser Balken, die man nicht mehr entfernen kann, ohne das Haus zu gefährden.