Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold
Anregung zum Studium bedeutender Persönlichkeiten
DEUTSCHE BIOGRAPHISCHE ENZYKLOPÄDIE (DBE)
Band 7. Herausgegeben von Walther Killy und Rudolf Vierhaus.
K. G. Saur, München 1998, 695 S.
Wissenschaftlicher Beirat und 104 ebenso namhafte Autoren haben auch dem jüngsten Band der DBE den Rang eines einzigartigen Standardwerks gesichert.
Erwartungsgemäß, dennoch mit Erstaunen und Schmunzeln aufgenommen, bietet Band 7 der Enzyklopädie zu zwei Namen eine denkbar komplette Heerschau: Meyer und Müller. Die Müllers sind 271mal vertreten, dazu kommen noch 61 Namenszusätze mit Bindestrich- schon zu früheren Zeiten wollte nicht jedermann ein schlichter Müller sein. Etwas bescheidener nehmen sich die 109 Meyer aus, wenn auch in Überzahl gegenüber nur zehn Meier. Als 110. Meyer hätte Hans M. (1884-1966) hinzugefügt werden können, Philosophiehistoriker an der Universität Würzburg, immerhin Autor einer fünfbändigen Geschichte der abendländischen Weltanschauung sowie von Arbeiten zu Aristoteles, Platon und Thomas von Aquino. Er hätte dem Band wohl besser zu Gesicht gestanden als der Altnazi Kurt Meyer, genannt ,Panzermeyer, Militär, Kommandeur der SS-Division Hitler-Jugend und 1945 von einem kanadischen Gericht wegen Kriegsverbrechen verurteilt.
Geschmackssache sind die 16 Zeilen für Theodor Morell, ab 1936 Hitlers Leibarzt und zuvor Berliner Prominentendoktor (was allein seine Aufnahme in ein solches Werk nicht gerechtfertigt hätte). Ein anderer Mediziner, der KZ-Arzt Josef Mengele, gehört sicherlich in diese Enzyklopädie (was ja keine moralische Rehabilitierung bedeutet). Er wird korrekt als NS-Verbrecher bezeichnet. Diese ausdrückliche Charakterisierung bleibt dem Wehrwirtschaftsführer Fritz ter Meer erspart. Die 25 Zeilen zu seinem Lebenslauf verzeichnen jedoch, daß er in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt worden ist, weil er mitverantwortlich für die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in den besetzten Gebieten sowie für die Versklavung und Tötung von Arbeitskräften in den Konzentrationslagern war. 1948 vom Kriegsverbrechertribunal, dem Internationalen Gerichtshof, schuldig gesprochen, wurde er bereits 1950 - kurz nach Bildung der Bundesrepublik - begnadigt und in den Aufsichtsrat der Bayer AG gewählt, dessen Vorsitz er 1956-64 führte. Er starb drei Jahre später mit 83. Fakten einer deutschen Vita, die sich selbst kommentieren.
Die Unterschiedlichkeit von Handschriften und Sichten der Autoren jedenfalls ist trotz aller Sachlichkeit in vielen Beiträgen erkennbar. Eines von Hunderten von Beispielen, wie durch nüchterne Darstellung der Tatsachen ein Mensch in seiner Widersprüchlichkeit und Verstrickung sichtbar wird, sind die Zeilen über den Reichskriminaldirektor Arthur Nebe (1894-1945), Anfang der vierziger Jahre als Polizeigeneral mitschuldig an der Ermordung von 70 000 Juden in Rußland, dann Mitverschwörer gegen Hitler und 1945 in Plötzensee hingerichtet. Wohl die meisten der kurzen wie auch die namentlich gezeichneten ausführlicheren Beiträge dürften Alfred Polgars Maxime entsprechen: An einer Seite Prosa arbeiten wie an einer Bildsäule. Bei diesem anspruchsvollen Unternehmen muß buchstäblich jedes Wort bedacht werden.
In allen Nachschlagewerken und speziell im biographischen Bereich, dem sensibelsten, erweisen sich die Proportionen, die nun mal in Druckzeilen zu messen sind, als offene Flanke. Der Benutzer darf sie schonen oder nach Belieben angreifen. Toleranz beweist, wer zwar grobe Mißgriffe beanstandet, ansonsten aber die angebotenen Toleranzen der Umfänge akzeptiert, wohl wissend, daß die Autoren sich nur höchst ungern beschränkt haben.
Im vorliegenden Band sind keine Mißgriffe feststellbar. Anmerkungen im einzelnen sind damit nicht ausgeschlossen. Beispielsweise Balthasar Permoser, einer der bedeutendsten Skulpteure des Spätbarock, und Ludwig Persius, der zu einem der bedeutendsten Architekten und städtebaulichen Gestalter Potsdams wurde, sind vergleichsweise bescheiden bedacht (15 und 14 Zeilen), ein wenig ungerecht etwa gegenüber dem Bibliothekar Georg Heinrich Pertz. Dessen Bedeutung als Leiter der Königlichen Bibliothek in Berlin und wissenschaftlicher Redakteur der Monumenta Germaniae Historica ist unbestritten, rechtfertigt jedoch die doppelte Länge nicht. Bei der Wiederholung des Wortes Monumenta hat sich übrigens einer der wenigen Druckfehler dieses Bandes eingeschlichen (eine offenbar unausrottbare Plage fast jeder Publikation). Unter Wichard von Moellendorff wäre der erwähnte Friedensschluß von 1763 zu berichtigen - er erfolgte zu Hubertusburg statt in Hubertusberg. Dem Betrachter, auch wenn er nicht zu den neuen Bundesbürgern zählt (eine Unterscheidung der Deutschen, die sich hartnäckig hält, aber vielleicht doch zurückgedrängt gehört), wird man ein besonderes Interesse an der Berücksichtigung von Frauen und Männern zugestehen, die sich in der DDR und - unabdingbar - darüber hinaus im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht haben. Der vorliegende Band bietet eine repräsentative Auswahl, die auf den ersten und zweiten Blick keine Lücken aufweist. Man findet den Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer ebenso wie den Historiker Alfred Meusel, den Komponisten Ernst Hermann Meyer ebenso wie den Politiker Karl Mewis. Wir begegnen dem Thüringer evangelischen Bischof Moritz Mitzenheim - sein Bemühen um eine Verständigung mit den staatlichen Institutionen der DDR ... war innerhalb der Kirche heftig umstritten - und der Schriftstellerin Irmtraud Morgner. Heiner Müller, der zum bekanntesten deutschen Dramatiker nach Brecht wurde, und seine einfühlsam skizzierte Frau Inge Müller sind ebenso vertreten wie der Militär Vincenz Müller und der Jurist Hans Nathan. Der eher unbedeutende Politiker Arthur Pieck, Präsidialbürochef und dann farblose Galionsfigur der INTERFLUG, ist im Vergleich zu seinem Vater Wilhelm Pieck überbewertet.
Es dürfte einer späteren Auflage der Enzyklopädie vorbehalten bleiben, die bisher berücksichtigten Ost-Namen zu überprüfen und neue aufzunehmen. Ob in diesem Prozeß das Munzinger Archiv und andere altbundesrepublikanische Quellen allein zu Rate gezogen werden sollten, erscheint diskussionswürdig.
Bei diesen Publikationen fehlt es mitunter an Sach- und Detailkenntnis, Personen werden über- oder unterschätzt. Die verschiedenen Whos who? alten, neueren und jüngsten Datums zu namhaften Leuten aus der DDR weisen jedenfalls erhebliche qualitative Unterschiede auf. Die Wertung politischer und anderer Persönlichkeiten aus 40 Jahren DDR kann in dem Maße vervollkommnet und objektiviert werden, wie unvoreingenommene Sachkundige aus Ostdeutschland einbezogen werden.
Liest man beispielsweise die 19 Zeilen zu Günter Mittag, die sich auf Munzinger stützen und im Grunde nur seine Funktionen wiedergeben, wird ein deutliches Defizit sichtbar, das wiederum nicht für die Darstellung sämtlicher Politiker der DDR charakteristisch ist: unangebrachte Zurückhaltung, Verzicht auf jeden kritischen Ton (den es in diesem Werk durchaus gibt). Als Literatur genannt wird Mittags Autobiographie Um jeden Preis, ein Freispruch in eigener Sache, nicht genannt wird Totengräber der DDR (ECON), ernstzunehmender Bericht eines Insiders. Bei Albert Norden, ebenfalls Politbüromitglied der SED, vermißt man einen Hinweis auf die von ihm initiierten publizistischen Kampagnen gegen bundesdeutsche Politiker mit brauner Vergangenheit, das eigentlich Wichtige in seiner Vita. Dagegen ist die Erwähnung eines Lehrstuhls für neueste Geschichte an der Humboldt-Universität durchaus überflüssig - es war eine diensteifrige Gefälligkeit, damit N. sich Professor nennen konnte.
Insgesamt unterschiedlich gehandhabt werden Angaben zu Literatur über die jeweilige Person. Hier haben die Autoren erheblichen Spielraum. Der Kartograph und Philosoph Gerhard Mercator (1512-1594) bekommt mit 25 Zeilen eine sehr großzügige Übersicht, der legendäre Staatsmann Metternich muß sich mit sieben Zeilen Literaturangabe begnügen, bei Moses Mendelssohn sind es nur sechs, für Felix Mendelssohn Bartholdy bleiben drei, und Schriften zu Franz Mehring sind überhaupt nicht erwähnenswert. Sicherlich ist es schwierig, hier eine strenge Regel aufzustellen und einzuhalten. Die beispielhaft angedeuteten Disproportionen sollten jedoch vermieden, die Literaturhinweise in angemessenem Rahmen gehalten werden, im Maximum wie im Minimum. Besonderes und wohl wichtigstes Anliegen dieser Enzyklopädie ist es, Persönlichkeiten dem Vergessen zu entreißen oder vor dem Vergessen zu bewahren. So entdeckt man, wohltuend überrascht, unter den Schweizern - die ebenso wie die Österreicher gut repräsentiert sind - den Namen Theo Pinkus (1909-1991), Verleger in Zürich, zu Lebzeiten in beiden deutschen Staaten auch über den Verlagsbereich hinaus bekannt. Zugabe für den Benutzer und vielleicht wichtigste Eigenschaft dieses Werkes also: Bei Zeitgenossen, die nicht mehr unter uns weilen, erwächst schon aus wenigen sachlichen Zeilen ein lebendiges Bild, und bei historischen Figuren wird ein Anstoß gegeben, sie wieder ins Gedächtnis aufzunehmen, oder gar der Vorsatz geweckt, sich mit ihnen zu beschäftigen.