Eine Rezension von Jutta Aschenbrenner

Zeitzeugen im „Kreuzverhör“

Franziska Schlotterer: Wendezeiten

Deutsche Lebensläufe in fünf politischen Systemen.

Herausgegeben von Franziska Schlotterer und Isabella Knoelsel.

Henschel Verlag, Berlin 1997, 197 S.

Auf das Interview als Genre wird seit einem knappen Jahrzehnt auffällig oft immer dann zurückgegriffen, wenn deutsche Geschichte - speziell Vorwende-, Wende- und Nachwendezeit - anhand von Einzelschicksalen veranschaulicht werden soll. Fast entsteht der Eindruck, als ob tagtäglich Interviewer in den ostdeutschen Landen vor allem auch mit dem Ziel unterwegs sind, für immer „neue“ Projektideen geeignete Gesprächspartner ausfindig zu machen. Dabei sind helfende Hinweise aus dem Freundes- und Bekanntenkreis erwünscht und werden dankbar angenommen. Bewährt hat sich auch, mögliche Gesprächspartner gegebenenfalls über Zeitungsannoncen für ein Film- und/oder Buchprojekt kennenzulernen.

Mit Wendezeiten ist nun ein weiteres Buch auf dem Markt, dessen Grundlage Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern bilden. In diesem Fall sind es schon etwas betagte Frauen und Männer - zwischen 1906 und 1915 geboren -, die sich dem Frage-und-Antwort-Spiel über ihr Leben in fünf verschiedenen politischen Systemen - Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik und wiedervereinigtes Deutschland - stellen. Wie die Interviewerin Franziska Schlotterer im Vorwort hervorhebt, ist für sie und ihre beiden Mitstreiter - sie stammen alle drei aus dem westlichen Teil Deutschlands - „ein Leben, das immer wieder von großen Umbrüchen und Neuorientierungen geprägt war, nur schwer nachvollziehbar“ gewesen.

Bis auf eine in Hannover geborene Schirmfabrikantentochter, die ihrem Ehemann, einem Pfarrer, nach Pommern folgte, erblickten alle anderen Befragten im Osten das Licht der Welt. Der „Osten“ ist dabei sehr weit gefaßt, denn auch ein heute in Berlin lebender Elektromeister, der 1914 im bis 1919 zu Deutschland gehörenden Memelland geboren wurde, sowie die deutschstämmige Martha Blume aus dem ukrainischen Ort Ila Schowka, die jetzt in Halle (Saale) wohnt, gehören zu den Gesprächspartnern. Anhand der Biographien von vier Frauen und vier Männern möchte die Autorin „die Kontinuität und Brücke der deutschen Geschichte darstellen und die vielschichtige Wechselbeziehung zwischen öffentlichem und privatem Leben dokumentieren“. Für dieses gewiß nicht einfache Vorhaben wurden außer der Ehefrau des Pfarrers - sie ist übrigens die älteste Gesprächspartnerin - sowie dem Elektromeister und der Angestellten aus Halle eine Bäuerin, ein Kapitän, die Berliner Schriftstellerin Elfriede Brüning, ein Ingenieur aus Dessau und ein Professor für Elektrotechnik aus Dresden ausgewählt. Sicher ist eine solche Auswahl nicht unbedingt repräsentativ, dennoch geeignet, Einblicke in fast 100 Jahre deutsches Alltagsleben zu vermitteln. Das Verweilen auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands wird fast ausschließlich zunächst mit Bodenständigkeit und dem Besitz des eigenen Hauses oder Hofes begründet, aber auch, wie im Fall von Elfriede Brüning oder auch des Professors aus Dresden, um beim Aufbau eines Staates mitzuhelfen, von dem sie in ihrer Jugend geträumt haben.

Gemeinsamkeiten in den Lebensläufen gibt es bis auf die Geburt im kaiserlichen Deutschland kaum. Das kann aufgrund der Herkunft aus unterschiedlichem sozialem Milieu auch nicht anders sein. Außerdem liegen zwischen der Geburt der ältesten Interviewten und des jüngsten Gesprächspartners neun Jahre. So kann sich zwar die Fabrikantentochter noch an Details aus ihrer Kindheit während des Ersten Weltkrieges erinnern, doch für den 1915 in Warnemünde geborenen späteren Kapitän setzt bewußtes Erleben erst in der Weimarer Republik ein. So ist es auch nur natürlich, daß Kindheitserinnerungen sehr verklärt herübergebracht werden. Über die Nachkriegsjahre und die Inflation haben die Interviewten nur wenig zu sagen. Auch später beschäftigen den einzelnen die Familie und die alltäglichen materiellen Umstände verständlicherweise oftmals stärker als selbst gravierende historische Ereignisse.

Die Fragestellung ist sicher auch nicht immer gelungen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Interviewerin die Klischeevorstellungen, die sie vom Leben in der Monarchie und unter den folgenden gesellschaftlichen Verhältnissen hat, von ihren Gesprächspartnern nur allzugern bestätigt bekommen möchte. Das beginnt bei Fragen nach der unbeschwerten bzw. glücklichen Kindheit während der Kaiserzeit, die trotz Krieg als gute alte Zeit in so mancher Erinnerung vorhanden ist. Etwas eigenartig fühlt man sich als Leser auch von der Frage an die Pfarrersfrau berührt, ob sie sich schuldig fühlte, als sie von den Verbrechen der Nazis erfuhr.

Einer der acht vorgestellten Lebensläufe ist eine deutschjüdische Biographie. Prof. Rudolf Lappe aus Dresden hat ebenso wie seine aus Wien stammende Ehefrau Sophie im Exil in Großbritannien den Holocaust überlebt. Er ist wie die Schriftstellerin Elfriede Brüning bemüht, das von der Autorin angestrebte Zusammenfallen von Politik und Privatsphäre, von kleiner Lebens- und großer Weltgeschichte nachvollziehbar zu machen und auch Klischeevorstellungen über das Leben in der DDR abzubauen. Von fast allen Interviewten wird das Leben in der DDR nicht nur als bedrückend angesehen. So wird auf Werte hingewiesen, die mit der Wende verschwunden sind, wobei vor allem auf den sicheren Arbeitsplatz verwiesen wird. Selbst der Kapitän Willy Hahn, der in den 60er Jahren in Hamburg sein Schiff verließ, um sich dort nach einem Job umzusehen, aber irgendwann doch wieder zur Familie nach Warnemünde zurückkehrte und für sein Aussteigen mit zwei Jahren Gefängnis bestraft wurde, bricht nicht, wie man erwarten könnte, in Haß auf diejenigen aus, die ihm dies angetan haben.

Die vorgestellten Biographien sind alles in allem schon spannend und tragen auch zum Verstehen von Schlüsselereignissen in diesem Jahrhundert bei. Die von den Interviewten geäußerten unterschiedlichen Erfahrungen und Ansichten zeigen andererseits aber auch, wie kompliziert eine umfassende und objektive Aufarbeitung dieses Jahrhunderts sein wird.

Wenn man zu solchen Büchern greift, sollte man deshalb von vornherein seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben, sondern Lebenswitz und Lebensklugheit solcher Jahrhundertzeugen genießen, die sich dem Streß eines Frage-Antwort-Clinches aussetzen. Ein Lob gebührt dem Fotografen Markus Schädel für die gelungenen Porträts. Außerdem stellen die Erinnerungsfotos aus der Kindheit und Jugend, aber auch aus dem Berufsleben eine gute Ergänzung zu den Texten dar. Nicht immer stimmen allerdings Bildunterschrift und Foto überein. Eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse dieses Jahrhunderts als Anhang am Ende des Buches hätte seinen Informationswert zweifellos erhöht.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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