Eine Rezension von Walter Unze

„Er ist viel mehr unser Zeitgenosse als die Mehrzahl derer, die in dieser Stunde schreiben und reden ...“

Ludwig Marcuse: Heinrich Heine. Melancholiker - Streiter in Marx - Epikureer

Diogenes Verlag, Zürich 1980, 366 S.

Diese Biographie hat ihre eigene Geschichte. Als sie 1932 zum erstenmal erschien, war sie eine Auseinandersetzung mit dem angegriffenen, dem verpönten Dichter Heinrich Heine. In der zweiten Auflage von 1951 waren die Erfahrungen des Emigranten Marcuse eingeflossen, Erfahrungen, die auch der Emigrant Heine machen mußte. Und schließlich - in den späteren Ausgaben - resignierte der Autor: Heine sei keine Parole mehr, nur noch ein kleines Kapitel der Literaturgeschichte. „... der Kampf um Heine ist nicht mehr aktuell ..., leider“ (S. 359), sind die letzten Worte des Buches.

Ludwig Marcuse (1894-1971) hat sich immer wieder mit Persönlichkeiten der Kunst und Wissenschaft auseinandergesetzt. Seine Bücher zu Sigmund Freud und Richard Wagner, zu Ignatius von Loyola und Ludwig Börne sind wie auch sein Heine-Buch stets mehr als nur die Beschreibung von Lebensgeschichten. „Wer ein Menschen-Leben darstellt, muß wissen: was ein Mensch ist. Etwa, woher diese Individualität stammt; welchen Sinn dieses individuelle Leben hat“ (S. 55) - so lautet die Maxime Marcuses für sein Herangehen an ein Menschenschicksal. Ein „Haufen kalendermäßig geordneter“ Fakten, Stimmungen und Handlungen sei kein Leben. Die Schwierigkeit bei Heinrich Heine bestehe nun darin, daß es bei ihm kein organisches Wachsen, keine Lehrjahre, Wanderjahre, Jahre der Reife gegeben habe, die man darzustellen habe. Ein solches Bild von einer allmählichen Entwicklung passe nicht auf Heine - ja es „paßt nicht auf das Werden der Menschen in Kulturen, die keine Ordnung mehr sind“. (S. 55) Diese Feststellung Marcuses ist charakteristisch für seine Art, einen Menschen darzustellen. Es drängt ihn immer wieder, das einzelne Individuum in seine Zeit zu stellen, es durch die Brille der Zeit zu sehen, seine Handlungen und Aussagen zu deuten, zu bewerten, in größere Zusammenhänge zu rücken, zugleich aber regelmäßig die heutige Zeit als Aspekt der Wertung einzuführen. An keiner Stelle des Buches gewinnt man den Eindruck, möglichst objektiv durch das Leben Heines geführt zu werden; stets spürt man die Handschrift des Autors, deutlich hört man die Stimme des Ludwig Marcuse, der einem sagt, wie er seinen Heine sieht und wertet.

Und diese Meinung ist oft überraschend, provozierend, sie fordert den Leser zum Nachdenken heraus, auch zum Widerspruch. So läßt das Buch keinen ruhigen Lesefluß zu, der doch durch die meist bekannten Lebensstationen Heinrich Heines vorprogrammiert erscheint. „Heine war der Metternich des Bürgertums“ (S. 200), liest man, stutzt, rekapituliert die eigene Vorstellung vom Kanzler Metternich und ist verblüfft über diesen Vergleich. Die Erklärung, die Marcuse dafür liefert, beruhigt nicht, sondern fordert erneutes Nachdenken heraus: „Metternich sah im sterbenden Feudalismus, Heine im (drohenden) Untergang des Bürgertums das Ende der Kultur. Beide sahen, kleingläubig, in der Zukunft das Herannahen der Barbarei, die Auflösung der menschlichen Gesittung; und beide wußten, daß diese Zukunft für die Dauer nicht aufzuhalten ist.“ (S. 200)

In dieser Art wird dem Leser ein Heinrich Heine vorgestellt, mit dem er geistig ringen muß, den er nicht einfach - etwa als den berühmten Poeten des Buches der Lieder - rezipieren kann. Jeder der acht Abschnitte des Buches bringt überraschende Akzente: die Jahre in Deutschland (Figuren der Jugend; Ein Poet studiert), das Leben in Frankreich (Zwischen Bourgeoisie und Proletariat; Heine, Marx, Goethe und die Emigranten von 1933; Henri und Mathilde; Der sterbende Aristophanes), der aktuelle Nachtrag „Die Geschichte des Heine-Denkmals in Deutschland“. Von besonderer Eigenart - und daher sehr empfehlenswert - ist der Abschnitt „Der untergehende und der aufgehende Stern“. Hier hat Marcuse kleine, selbständige Porträts von Metternich, Gentz und Saint-Simon eingefügt, die noch einmal - faktisch in Miniaturausgabe - seine Ansicht von der Darstellung eines Menschenlebens sichtbar werden lassen. Es gelten keine vorgefaßten Meinungen, keine festgelegten Typisierungen, sondern gefragt ist das handelnde und denkende Individuum. Selbst wenn man nicht mit dem Autor in seinen Wertungen übereinstimmt, so muß man diese biographischen Skizzen in ihrer Feinheit bewundern. Überschreiben könnte man sie mit den Worten Marcuses: Metternich - „der größte Don Quichotte seiner Zeit“ (S. 122), Gentz - „ein skeptischer Philosoph“ (S. 132), Saint-Simon - „ein echter Gläubiger der Wissenschaft“ (S.143).

Natürlich kommt man in einer Heine-Biographie nicht an dem poetischen Werk des Dichters vorbei. Aber auch hier bleibt sich Marcuse treu. Er gibt keine literaturwissenschaftliche Abhandlung, sondern nutzt Gedichte Heines einerseits als Belege, macht andererseits keinen Hehl daraus, wie seine ganz subjektive Meinung zum dichterischen Schaffen Heines ist, wobei er sich vorbehaltlos mit der Einschätzung Nietzsches identifiziert, die in Heine den „ersten Artisten“ der deutschen Sprache sah. Als das Besondere, das Neue in Heines Dichtung bestimmt Marcuse „das Sentiment, das kein Zutrauen zu sich hat - und deshalb seine Wärme künstlich verkältet und die Unwahrheit dieser Kälte einsieht“ (S. 245).

Marcuse zeichnet einen vielseitigen, einen widersprüchlichen Heine, einen bürgerlichen Revolutionär und einen ängstlichen Helden, einen Pfaffen-Feind und einen geduckten Heiden, einen Aristokraten-Hasser und einen königstreuen, deutschsentimentalen Europäer. Vor allem aber will Marcuse mit seinem Heine-Buch eines belegen: „Er ist viel mehr unser Zeitgenosse als die Mehrzahl derer, die in dieser Stunde schreiben und reden ...“ (S.226)


© Edition Luisenstadt, 1998
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