Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold
Kritisch und mit Respekt
Franz-Olivier Giesbert:
François Mitterrand. Die Biographie
Aus dem Französischen von Angelus H. Johansen, Christiane Landgrebe und Christiana Ruhl.
Propyläen Verlag, Berlin 1997, 640 S.
Die Originalausgabe François Mitterrand von 1996, bei Edition du Seuil noch im Todesjahr erschienen, hat den Untertitel Une Vie, Ein Leben. Dies ist zurückhaltender als Die Biographie. Dennoch erscheint der damit verbundene - sicherlich verkaufsfördernd gedachte- Anspruch berechtigt. Hier liegt eine Lebensbeschreibung des großen europäischen Politikers von Weltrang vor, die so leicht nicht übertroffen werden kann. Die deutsche Übersetzung ist ausgezeichnet. Vergleichende Stichproben mit dem Original lassen erkennen, daß auch Nuancen, die jenseits des Umgangssprachlichen liegen, bewahrt sind.
Der hohe Anspruch ist schon auf den ersten Blick durch die Fülle der dargestellten Details, Daten, Ereignisse und Zusammenhänge begründet. Die fünf umfangreichen Kapitel, von Jugend, Gefangenschaft, Widerstand bis Die zweite Amtszeit, lassen sicherlich keine erwähnenswerte Situation außer acht.
Vier herausragende qualitative Merkmale machen den besonderen Wert des Buches aus. Da ist einmal die Sachkunde des Autors: Giesbert, seit 1988 Chefredakteur der rechtsbürgerlichen Pariser Morgenzeitung Le Figaro, zuvor in gleicher Funktion beim Nouvel Observateur, ist als exzellenter Kenner der französischen Politik ausgewiesen, speziell der vielschichtigen innenpolitischen Szene. Das gilt sowohl für den Tagesjournalisten als auch für den Verfasser zeitgeschichtlicher Publikationen, beispielsweise über Jacques Chirac.
Zum zweiten hat Giesbert, wie sich im Text zeigt, seit Anfang der siebziger Jahre viele persönliche Gespräche mit dem Oppositionspolitiker und, ab Mai 1981, mit dem Staatspräsidenten geführt. Dadurch gewinnt der gesamte Lebensbericht eine Authentizität, die überhaupt nicht erreichbar ist, wenn ein Politiker noch zu Lebzeiten Porträt sitzt, also seinem oder seinen Biographen weitgehend die eigenen Versionen erzählt - über Unliebsames muß man ja nicht reden. Der Autor ordnet diese Begegnungen, oft gibt es dabei sehr persönliche und offenherzige Äußerungen Mitterrands, unauffällig in die Chronologie der Ereignisse ein, benutzt das von der Hauptperson Gesagte gleichsam als Beweis für eine Meinung, die im nachhinein nicht mehr geleugnet werden kann, und als illustratives Element, das einem Vorgang oder einer Wertung die spezifische Farbe, das besondere Gewicht gibt.
Im Grunde sind hier mehrere Berichterstatter am Werk. Zum einen Mitterrand selbst, der sich gewissermaßen in eigener Sache äußert - zu politischen Vorgängen, zu seinen Entscheidungen, zur Person und zum Verhalten anderer Politiker. Ferner zitiert der Biograph die verschiedensten Weggefährten und Gegner des sozialistischen Oppositionspolitikers (der übrigens auch nach eigenem Bekunden weit davon entfernt war, Marxist gewesen zu sein) und des langjährigen Staatschefs; manche von ihnen haben sich über Mitterrand und seine Politik zu Lebzeiten wahrscheinlich erheblich anders ausgelassen, als sie es nach seinem Tod getan hätten - aber in dieser Biographie bekommt niemand außer dem Autor zu Mitterrand post mortem das Wort. Mit dieser einen Ausnahme stammen sämtliche Äußerungen über Mitterrand aus der Vergangenheit. So bestimmt allein Giesberts heutige Sicht, seine Auswahl zeitgenössischer Ansichten und Einschätzungen diese Biographie. Das ist durchaus legitim, doch eben dieses Vorgehen bietet auch die Möglichkeit, einseitig und damit ungerecht zu gewichten. Ob Giesbert dies im Einzelfall getan hat, kann nur ein ebenso genauer Kenner der französischen Politik der vergangenen drei Jahrzehnte beurteilen. Insgesamt entsteht der Eindruck: Der Verfasser bewahrt und zeigt seinen Respekt.
Drittens besticht das Buch durch die Präsentation zahlloser Politiker, sowohl der wichtigsten Persönlichkeiten, die Mitterrand um sich geschart hatte, als auch von Gegnern des Präsidenten. Sie insbesondere attackierten ab 1994 den Todkranken. Manchmal werden Staatsmänner zu Lebzeiten heiliggesprochen. Mitterrand hingegen wird vor seinem Tod verteufelt ... Zuletzt hat er keine Höflinge mehr, die ihn bewundern ... Die Rechte mag ihn nicht. Sie hat ihn nie gemocht. Vielleicht erkennt sie sich zu sehr in ihm wieder. Doch auch die Linke stellt sich am Ende gegen den Mann, der ihr zur Macht verholfen hat.
Was da im letzten Teil des Buches unter den Zwischentiteln Götterdämmerung und Mazarine - seine 1974 unehelich geborene, zehn Jahre später notariell anerkannte Tochter - mit nüchternen Worten, scheinbar emotionslos aufgeschrieben ist, liest sich dennoch wie ein unvollendetes Drama. Und schließlich, als es von Dezember 1995 bis 8. Januar 1996 mit dem Präsidenten zu Ende geht, verläßt der Autor erkennbar den unterkühlten Stil - durch die knappen Sätze dringt tiefes Mitgefühl. Es sind dies die stärksten Passagen eines Buches, das Mitterrand seine Größe läßt, ihn aber zugleich kritisch würdigt, in seiner Widersprüchlichkeit und mit seinen Fehlern darstellt. Wenn man bedenkt, auf welch hohes Podest er zu Lebzeiten gehoben worden oder mit der Attitüde des Grand Chef selbst gestiegen ist, empfindet man so etwas wie Bedauern darüber, daß hier ein Mensch vorgeführt wird, der beinahe wie jeder andere ist. Aber eben nur beinahe.
Viertens also ist die kritische Elle besonders bemerkenswert, die Giesbert anlegt. Hier wird kein Heiliger geschaffen. Dem Präsidenten werden auch Versäumnisse, Fehleinschätzungen, ja schwere Fehlentscheidungen attestiert. Hierzu zählt der Autor die unangebrachte, subjektiv motivierte Amnestie in der zweiten Amtszeit ebenso wie die widersprüchliche Reaktion auf den Putsch gegen Gorbatschow. Insgesamt sei Mitterrands Ostpolitik von Attentismus gekennzeichnet gewesen, vom Abwarten, obwohl er die großen Umwälzungen im Osten vorausgesehen habe.
Giesbert mißt den Staatschef am Vorgänger de Gaulle, ohne freilich dieses Thema auszuführen. Mehr bedauernd als vorwurfsvoll schreibt er (und läßt damit seine politische Position recht gut erkennen): Zu de Gaulles Zeiten hörte die ganze Welt zu, wenn Frankreich auf der internationalen Bühne sprach. Diese Zeiten sind vorbei. Dennoch läßt der Autor Nachsicht walten: Was Mitterrands Außenpolitik betrifft, so hält er den Vergleich mit seinen Zeitgenossen durchaus stand. Außer mit denen, so fügt er hinzu, die die Welt verändert haben: Michail Gorbatschow und Helmut Kohl. Wie zur Bekräftigung dieses subjektiven Werturteils sind auf den relativ wenigen Fotos des Buches die deutschen Politiker Brandt, Schmidt und Honecker je einmal vertreten, Kohl dagegen viermal.
Wie schon in Mitterrands faszinierender Selbstdarstellung Über Deutschland (Insel Verlag; 1996 in Heft 10/11 dieser Zeitschrift besprochen), läßt sich auch an diesem Buch seine Hinhaltetaktik in bezug auf die deutsche Einheit erkennen. Nachträglich wollte er sogar vergessen machen, daß er den in Gang gekommenen Prozeß zu bremsen versuchte, was doch wohl im Interesse Frankreichs lag und keineswegs ehrenrührig gewesen sein kann - Frau Thatcher hat sich zu ihrer Verzögerungs-, wenn nicht Verhinderungstaktik auch nachträglich offen bekannt. Giesbert jedenfalls geht mit Mitterrand ins Gericht: Er habe sich hinter Kohls Rücken offenbar des Beistands der Sowjetunion versichern wollen, um den Vereinigungsprozeß zu blockieren. Ein noch schwererer Fehler sei der Staatsbesuch in der DDR ab 20. Dezember 1989 gewesen.
Es bleibt unerfindlich, wieso der nationalbewußte Giesbert die Haltung des Präsidenten in der Deutschlandfrage mißbilligt und eine Mitteilungspflicht gegenüber Kohl postuliert, während dieser eindeutig ohne jede Abstimmung mit Frankreich gehandelt hat. Fazit des Biographen: Die beiden haben sich alsbald wieder vertragen. Zugleich fügt er hinzu: Franzosen und Deutsche sind sich zu nah, um einander wirklich zu lieben. Im Grunde weiß niemand, ob der französische Machtpolitiker aristokratischer Prägung den plumpen deutschen Macher wirklich gemocht hat, wie der Biograph behauptet. Wer aber (fast) alles über Mitterrand wissen möchte, wird auch auf lange Sicht kein kompletteres und gültigeres Angebot als das vorliegende Buch finden. Es ist bei aller Sachlichkeit sogar stellenweise amüsant zu lesen. So etwa die Schilderung, wie der künftige Präsident Frankreichs vor seiner ersten Kandidatur zwecks Verbesserung seines Images einem Werbefachmann anheimfällt, der ihn zu telegenem Benehmen und neuen Vorderzähnen verführt.