Eine Rezension von Gisela Reller
Die Geduld des russischen Volkes ist erstaunlich
Irina Ehrenburg: So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Antje Leetz.
Ullstein Buchverlag, Berlin 1997, 181 S.
Als Russin jüdischer und deutscher Abstammung wird Irina Ehrenburg in Frankreich geboren. Warum ich in Frankreich geboren bin und nicht in Rußland? Ganz einfach, mein Vater, Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg, und meine Mutter, Katharina Schmidt, lebten 1911 in Frankreich. Meine Mutter war von ihrem reichen Vater zum Medizinstudium von Petersburg nach Paris geschickt worden. Und Ilja Ehrenburg war 1908 aus Rußland nach Frankreich geflohen, nach der gescheiterten Revolution von 1905 und seinem Moskauer Gefängnisaufenthalt wegen Untergrundarbeit ... In Frankreich lernten Ilja und meine Mutter einander kennen, und dann kam ich. ... und dann kam ich - dieser lakonische Stil ist typisch für Irina Ehrenburgs Erzählweise, sie schweift nicht ab, formuliert auf den Punkt. Dennoch ist ihre vielseitige Biographie auch mit Charme und Witz vor uns ausgebreitet ...
Katharina Schmidt verließ Ehrenburg, als Irina noch ganz klein war, und ging zu Tichon Sorokin, der in Frankreich Kunstgeschichte studierte. Ihren Stiefvater nannte Irina ihr Leben lang Papa. (Sorokin war sehr gut zu mir. Solch einen Stiefvater gibt es auf der Welt kein zweites Mal.) Zu ihrem richtigen Vater sagte sie Ilja. Zwar bekennt sie sich zu ihrem Vater und seinem Judentum, doch betont sie auch, daß sie sich nicht als Jüdin empfindet und ihr die russische Kultur näher sei.
Noch während des Ersten Weltkrieges war Irina Ehrenburg mit ihrer Mutter nach Rußland zurückgekehrt. Als Kind durchleidet sie alle Nöte des Bürgerkrieges: Das, was in Rußland heute als Hunger bezeichnet wird, ist kein richtiger Hunger. Ich habe in meiner Kindheit in Rußland richtigen Hunger kennengelernt. Von 1923 bis 1933 lebt sie mit Ilja Ehrenburg und dessen neuer Frau in Paris, geht hier erstmals zur Schule und studiert dann an der Sorbonne Psychologie. Weil sie davon überzeugt ist, daß sich in Rußland etwas ganz Neues ereignet, geht sie zurück nach Moskau. Sie arbeitet im Obuchow-Institut als Psychologin - bis die Psychologie von Stalin als Pseudowissenschaft verboten wurde, worauf sie sich als Journalistin und Übersetzerin durchschlägt. Sie erlebt die Abholzung des Gartenrings, den Bau der Metro, die Zerstörung vieler Kirchen, die Verhaftung ihrer besten Freundin Natascha Stoljarowa, das Bemühen ihrer Anwerbung zur Agentin des NKWD, den alltäglichen Stalinschen Terror. Doch wie viele Intellektuelle glaubt auch Irina, Stalin sei nicht davon unterrichtet, welche Ungeheuerlichkeiten im Land vor sich gingen. Während des Zweiten Weltkrieges gerät ihr Mann, der Schriftsteller Boris Lapin, in den Kiewer Kessel, gilt als vermißt. Irina Ehrenburg arbeitet als Kriegsberichterstatterin, adoptiert 1944 das jüdische Waisenmädchen Fanja - um nur einige Stationen ihres bewegten Lebens zu nennen.
Dieser einzigartige Lebensbericht ist Antje Leetz zu danken, die Irina Ehrenburg ab 1991 bewog, ihr Leben auf Tonband zu erzählen. Sie tut es innerhalb von zwei Jahren mit beeindruckender Offenheit. Sowohl dann, wenn sie über andere berichtet - über ihre Mutter, die die Sowjetmacht nicht akzeptierte, über ihren deutschen Großvater, der nach der Revolution seine Fleischerei, seine Häuser und seine Söhne verlor und erblindet und verwirrt während der Leningrader Blockade verhungerte, über den ihr liebsten Menschen Boris Lapin, über Ilja Ehrenburg, den wichtigsten Menschen in ihrem Leben (Manche sagen, Ilja Ehrenburg habe große Kompromisse gemacht und Stalin unterstützt ... Doch das ist nicht wahr ... Ich glaube, Stalin hat Ehrenburg nicht leiden können. Überhaupt hat man bei uns beinahe alles unternommen, um meinen Vater nicht zu veröffentlichen.), über Ehrenburgs Frau Ljubow Michailowna, über den Bucharin-Prozeß, über Meyerhold, über litauische Juden in einem Vernichtungslager, über den Krieg und auch über ihre geliebten Hunde (Nur Hunde können im Kommunismus leben.) -, als auch dann, wenn die mehr als Achtzigjährige ihre Eitelkeit zugibt (Ich gebe mir Mühe, nicht in den Spiegel zu schauen, doch ich ziehe mich gerne elegant an, liebe neue Kleider ...).
Auch das Heute läßt Irina Ehrenburg nicht aus: Nicht den in Rußland wieder lebendigen Antisemitismus (In unseren Tagen ist das Problem des Antisemitismus erneut hochgekommen, wobei dieses Land schon schlimmere Perioden antijüdischer Stimmung erlebt hat, beispielsweise während des Krieges.), nicht die Wiedergeburt der Kosaken (Die Kosaken werden ja heute bei uns in den Himmel gehoben, doch ich habe noch immer eine große Wut auf sie ...), nicht die Versorgungslage (Die Geduld des russischen Volkes ist erstaunlich - diese Preise, und keiner muckt auf.), nicht die Reformen und die Demokratie. (Überspitzt gesagt: Rußland ist wahrscheinlich nicht ein Land, in dem Demokratie möglich ist, vermutlich auch heute noch nicht.)
Den Erinnerungen schließt sich Irina Ehrenburgs erstmals veröffentlichtes Kriegstagebuch der Jahre 1941-45 an, ursprünglich geschrieben für ihren vermißten Mann, der aus dem Krieg nicht zurückkehrte. Wahrscheinlich erschoß er sich, um den Deutschen nicht in die Hände zu fallen. Irina hat Boris Lapin nie vergessen können: Ich war sehr froh, daß ich mich auch nach Borja noch verlieben konnte. Doch ich hatte immer das Gefühl, daß ich einen Fremden ins Haus bringe ... So blieb ich mein ganzes Leben allein. - Am 25. März 1998 wird Irina Ehrenburg siebenundachtzig Jahre alt.