Eine Rezension von Licita Geppert

Jahrhundertwege mit Goethe

Dietrich Fischer-Dieskau: Carl Friedrich Zelter und das Berliner Musikleben. Eine Biographie.

Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997, 217 S.

Dagmar von Gersdorff: Bettina und Achim von Arnim. Eine fast romantische Ehe.

Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1997, 207 S.

Ein Genre, zwei Bücher, drei Personen, vier Lebenswege. Der Zeitraum ist fest umrissen: zweite Hälfte des 18. bis erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schicksale, die einander flüchtig berührten; zwei Menschen, die sich durch ihre Beziehung zu Goethe definierten und die beide in gewisser Weise in die Gesellschaft integrierte und von ihr als solche akzeptierte skurrile Außenseiter waren. Dennoch hätten ihre Lebensläufe verschiedener nicht sein können.

Die mit Recht bei Nicolai erschienene Biographie Zelters (1758-1832) - das von ihm umgebaute Haus des Verlegers Nicolai ist eines der wenigen erhaltenen Zeugnisse seines Brotberufes - bringt uns die vielschichtige Persönlichkeit dieses großen und berühmten Berliner Musikers nahe. Zelter, dessen von ihm selbst ausgewählte Grabstelle auf dem Sophienkirchhof in Berlin-Mitte noch heute zu besichtigen ist, befand sich zeitlebens in dem Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung.

Mit viel Akribie, natürlichem Musikverständnis und Einfühlungsvermögen in Charakter, Zeit und Lebensumstände läßt Fischer-Dieskau einen lebendigen Menschen vor uns erstehen. Zelters bei aller Rechtschaffenheit zeitweise etwas poltriges, ungeschliffenes Wesen, das er offensichtlich gezielt einzusetzen wußte, wies ihn durchaus als Angehörigen seines Berufsstandes, als Maurer und Baumeister aus. Fast bis zum Lebensende konnte er sich nicht aus den Zwängen dieses ungeliebten, gleichwohl meisterlich gehandhabten Gewerkes lösen. Nach seinem ersten Besuch bei Goethe wird Zelter bedauernd feststellen: „... und was ich bin, soll ich nicht sein. Was ich so machen kann, wie es keiner macht, verlangt keiner, und was die meisten wenigstens ebenso gut als ich können, gibt mir ein saures Brot, das ich, ohne Freude über vergoßnen Schweiß, genieße.“ (S. 56) Schier unglaublich ist daher die Energie, mit der er sich seit frühester Jugend bis zum Lebensende der Musik widmete. Als junger Mann nahm er fünf Stunden Fußweg nach Potsdam in Kauf für eine Stunde musiktheoretischen Unterricht bei Karl Friedrich Christian Fasch, wobei der Rückweg ebensolang dauerte und sich daran noch die Maurerarbeit anschloß.

Liebevoll, kenntnisreich und detailgetreu wird dem Leser das Bild seines umfangreichen Schaffens vermittelt. Berühmtheit in Berlin und über dessen Grenzen hinaus erlangte Zelter durch seine Lebensaufgabe: die Leitung der Berliner Singakademie, zu deren Gründungsmitgliedern er 1791 zählte und der er nach dem Ableben ihres ersten Leiters Fasch von 1800 bis vierzehn Tage vor seinem eigenen Tode vorstand. Diesen Platz behauptete er mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht. Und dies unter oftmals widrigen Umständen und allen Schicksalsschlägen zum Trotz. So erhielt die Singakademie erst 1827 ein eigenes Domizil, das heutige Maxim Gorki Theater neben der Humboldt-Universität. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Chorproben in dem unbeheizbaren Saal der Akademie über den Pferdeställen des Marstalls abgehalten.

Allein diese Tätigkeit hätte ein ganzes Leben ausgefüllt. Zusätzlich dazu aber unterrichtete Zelter, komponierte unermüdlich, gründete und leitete andere Chöre und Orchester, organisierte Konzerte und stand den Berliner Freimaurern vor; all dies zumeist ohne Bezahlung. Goethe bemerkt 1802 in seinen Annalen: „... er ward von zwei gleich werten Musen hin und her gezogen, deren eine sich seiner bemächtigt, deren andere er sich anzueignen wünschte. Bei seinem redlichen bürgerlich-tüchtigen Ernste war es ihm ebenso um sittliche Bildung zu tun, als diese mit der ästhetischen so nahe verwandt, ja in ihr verkörpert ist und eine ohne die andere zu wechselseitiger Vollkommenheit nicht gedacht werden kann.“ (S. 56)

Ein Gewinn für die Biographie ist die unter weitgehender Beachtung der Chronologie vorgenommene Untergliederung in Sachzusammenhänge, wie zum Beispiel „Die Musik und Goethe“ oder „Zelter, der Komponist“. Seine langjährigen Erfahrungen, vor allem als Lied-Sänger, ermöglichen es Fischer-Dieskau, meisterhaft die Schaffensproblematik Zelters darzustellen und einzuordnen, blieb dieser als Komponist doch eigentlich Zeit seines Lebens Autodidakt und gehobener Dilettant und schaffte nur selten den Sprung zu den wirklich Großen, obwohl der Autor seine besten Leistungen in eine Reihe mit Schubert, Weber und Loewe stellt. Mit zunehmendem Alter in seinen Musikauffassungen verharrend, wurde er von einigen Zeitgenossen teils berechtigt, teils unberechtigt kritisiert. Dies konnte seine gewichtige Position im Musikleben der Stadt jedoch keineswegs schwächen.

Zelter war ohne das Berliner Musikleben undenkbar, ebenso das Berliner Musikleben ohne Zelter. Daher ist es nur natürlich, beides miteinander zu verknüpfen. Die Musikpflege lag in dieser Zeit hauptsächlich in privater Hand. Überall wurde Hausmusik veranstaltet, „dilettiert“. Daß die Singakademie zu solcher Größe an Mitgliederzahl (bis 300 Sänger), vor allem aber an Berühmtheit gelangte, ist zweifelsohne Zelters Verdienst. Dies führte auch dazu, daß sogar Gesangssterne der Königlichen Oper zu ihren Mitgliedern zählten und zahlreiche späterhin berühmte Musiker aus ihren Reihen hervorgingen. Die Teilnahme an der Singakademie wurde damit zum Zeichen gesellschaftlichen Ranges. Zum wichtigsten und liebsten Schüler wurde der junge, hochbegabte Felix Mendelssohn, den Zelter einfühlsam förderte und mit großem Erfolg bei Goethe einführte.

Die Freundschaft zwischen Zelter und Goethe begann im Jahre 1802 mit einem Besuch Zelters in Goethes Haus in Weimar: „Ich war wie ein Kalb, das aus der Kuh kommt, als wenn ich zum ersten Male die Sonne sähe“, faßt er seine Eindrücke zusammen (S. 55). Diese Anbetung des großen Genius sollte die Beziehung bis zu beider Lebensende prägen. Darüber hinaus jedoch war es eine anrührende, enge, aufrichtige, fast liebevolle Freundschaft beider Männer und Familien, die einander ihre intimsten Freuden und Sorgen anvertrauten. Erst die Wertschätzung seiner Person und seines Schaffens durch Goethe verschafften Zelter wirkliches Selbstvertrauen. Und für Goethe, der Zelter als einem von wenigen Auserwählten das vertrauliche Du angeboten hatte, war diese Freundschaft so wichtig und bereichernd, daß er den gemeinsamen Briefwechsel zur postumen Veröffentlichung bestimmte. Der neun Jahre jüngere und durchaus rüstige Zelter verlor nach Goethes Tod sämtlichen Lebenswillen und folgte dem Freund nur zwei Monate später nach.

Mit anderen Geistesgrößen seiner Zeit verkehrte Zelter ungezwungen von gleich zu gleich. Vertonte er jedoch Gedichte, so trat seine Musik hinter den Text zurück, bildete den Urgrund, auf dem die Worte zum Klingen gebracht wurden. Das verschaffte ihm Ansehen bei den Dichtern, führte jedoch in späterer Zeit zu einer Abkopplung von der fortschreitenden Musikentwicklung, die zur Verselbständigung der Musik neben dem Text führte, ja diesen oft nur als Vorwand gebrauchte (was manchen Texten durchaus zum Vorteil gereichte). Fischer-Dieskau läßt den Leser teilhaben an den Wandlungen der Musikauffassungen jener Zeit und an den musiktheoretischen Diskussionen um Formen und Inhalte.

Diese für musikinteressierte Laien, Goethe-Freunde wie für Fachleute gleichermaßen interessante, wissenschaftlich fundierte und literarisch anspruchsvolle Biographie ist bei allem Faktenreichtum nicht nur gut lesbar und spannend geschrieben, sie ermöglicht durch Textpassagen, aber auch durch den umfangreichen Anhang einen Überblick über die Entwicklung des kompositorischen Schaffens Carl Friedrich Zelters. Fotos und Reproduktionen runden das Werk ab zu einem schönen Band, den man immer wieder gern in die Hand nimmt.

 

Als Romanfigur wäre Catharina Elisabeth Ludovica Magdalena Brentano, genannt Bettina, selbst in heutiger Zeit ungeeignet. Zu widersprüchlich war ihre Persönlichkeit, zu sehr wurde sie von ihren Leidenschaften getrieben, zu groß waren die Brüche in ihrer Biographie - mit anderen Worten, die Geschichte würde völlig unglaubwürdig erscheinen. Dagmar von Gersdorff ist das Kunststück gelungen, in der Rowohlt-Reihe „Paare“ eine Biographie über das selbstgeschaffene Kunstprodukt Bettine von Arnim, geborene Brentano, zu schreiben, die erzählerisch alle Qualitäten eines guten Romans aufweist und dennoch biographisch-dokumentarisch untersetzt ist. Die Beschreibung der „fast romantischen Ehe“ zwischen Bettina und Achim von Arnim legt nahe, auch den Ehemann dann und wann zu erwähnen. Die Autorin meistert die Schwierigkeit, neben der alles verdrängenden Bettina auch ihm den nötigen Platz zu verschaffen, der aber im Verhältnis zur Seitenzahl ungefähr jenem entspricht, den er auch in beider Beziehung innehatte.

Schrieb Goethe einst mit verhaltener Anerkennung über Berlin und seine Bewohner: „Es lebt aber ... dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten.“ (Zelter-Biographie, S. 57), so hätte man vermuten können, daß die 1785 in Frankfurt am Main geborene ungestüme Bettina mit ihrer Direktheit und ihrer lebenslang beibehaltenen Ungebärdigkeit nicht weiter aufgefallen wäre, aber selbst den Berlinern ging dieses Temperament zu weit, wie zahlreiche Zeugnisse, wie hier von Varnhagen von Ense mit vornehmer Zurückhaltung formuliert, belegen: „Häufen Sie Widersprüche auf Widersprüche bergehoch, überschütten Sie alles mit Blumen, lassen Sie Funken und Blitze herausleuchten und nennen Sie’s Bettina.“ (S. 130)

Wie schwierig die Ehe mit einer solch eigenwilligen Person für den ruhigeren Arnim sein mußte, lassen die von der Autorin zusammengefaßten Bemerkungen der Bettina freundschaftlich verbundenen Schwedin Malla Silfverstolpe ahnen, die für deren Eigenheiten viel Verständnis aufbrachte. „Für wen sie ,als Frau passen würde‘, wer geeignet wäre, mit einer zwischen Enthusiasmus und Erschöpfung schwankenden, von Emotionen beherrschten Frau den Ehealltag zu bestehen, wußte sie auch nicht.“ (S. 164)

„Goethe selbst hatte die Fäden geknüpft. Ohne es selber zu ahnen, brachte er Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammen, die beiden Volkslied-Sänger der Romantik, deren gemeinsames Werk Des Knaben Wunderhorn sie weithin berühmt machen sollte, und lange bevor Brentanos Schwester Bettina ihn, Goethe, zum Idol und Leitstern erkor, war er es, bei dem ihrer aller Lebenslinien sich kreuzten und wie in einem Brennpunkt zusammenliefen.“ (S. 9) Die Freundschaft zwischen Arnim (1781-1831) und Brentano (1778-1842) wurde im Jahre 1801 durch gemeinsame Goethe-Verehrung geschmiedet und sollte alle Lebensstürme überdauern. Von Beginn an versuchte Clemens, aus Liebe zu Freund und Schwester, Achim durch die Verbindung mit Bettina an sich zu binden. War dies angesichts der Intensität der Freundschaft eigentlich überflüssig, so brachte es doch die späteren Eheleute zusammen. Zunächst war Bettina nur durch Arnims Bekanntschaft mit Goethe beeindruckt, und es sollte noch ein Jahrzehnt der Tändelei und anderweitigen Liebschaften vergehen, bevor sie, in einer Art Torschlußpanik, dafür aber um so heftiger, zueinander fanden. Hinterlassen die Zeugnisse der vorangegangenen unentschlossenen Jahre das Bild zweier Menschen, die nur wenige Gemeinsamkeiten haben, so verwundert die Heftigkeit der Liebe in den ersten Ehejahren um so mehr. Probleme waren dennoch vorprogrammiert, heiratete Bettina doch ihr im Kopf geschaffenes Bild ihres Mannes, dem sie in zwanzig langen Ehejahren die Realität erfolglos anzupassen versuchte. Arnim, dem der Zugriff auf Bettinas Vermögen verwehrt blieb, mußte in mühevoller, wenn auch später freudig verrichteter Arbeit auf dem ererbten Gut Wiepersdorf für den Lebensunterhalt der jährlich wachsenden Familie sorgen, währenddessen Bettina das teure Berliner Gesellschaftsleben vorzog. Arnim arbeitete unermüdlich, was von ihr nicht anerkannt wurde. Statt dessen drängte sie ihn unentwegt zur literarischen Tätigkeit, für die ihm der notwendige lange Atem fehlen mußte. Erst nach seinem Tode erfuhr sie von der Existenz einer umfangreichen Gedichtsammlung aus Arnims Feder. Das, was sich schon vor der Ehe angedeutet hatte, bewahrheitete sich im nachhinein - trotz stets vorhanden gebliebener sexueller Anziehungskraft hatten die Eheleute in verschiedenen Welten gelebt.

Dagmar von Gersdorff läßt Bettina jedoch Gerechtigkeit widerfahren und bettet ihre Eigenheiten, ihr Streben zu eigener Anerkennung und Berühmtheit ein in die Zeitumstände, die einer Frau nur geringen Spielraum ließen. So wird ihr Bestreben verständlicher, ihre Biographie mit der anderer Größen zu verknüpfen. Auch werden sowohl Bettina als auch Achim von Arnim und ebenso Clemens von Brentano dem Leser als geistvolle Menschen und Künstler nahegebracht, denen die Würdigung ihres Schaffens und Auftretens berechtigt zuteil wurde.

Alles wurde jedoch überstrahlt von der Lichtgestalt Goethes. Bettina, die Goethe schon vor der persönlichen Bekanntschaft seit der Lektüre des „Werther“ unabdingbar verehrte, sollte diese schwärmerische Verehrung ein Leben lang beibehalten, Goethe selbst als einzigen ihr angemessenen Menschen empfinden und gleichzeitig doch ihre eigene Biographie durch ihn heller erstrahlen lassen. Schon den von ihr herausgegebenen und so betitelten Goethes Briefwechsel mit einem Kinde benutzte sie als Vorwand, um ohne Zurückhaltung ihre eigenen Ansichten und Gedanken zu formulieren. „Ursprünglich hatte Bettina die Biographie Goethes schreiben wollen - dann war das eigene Leben, das sie, mit dem seinen verknüpft, in einer noch nie dagewesenen Form selbstbewußter weiblicher Autobiographie öffentlich machte ... Realität und Projektion, Wunschbild und Traum, kindliches Fühlen und sinnliches Erfahren fließen ineinander. Im Haus der fremden Freundin erfand Bettina ihren Lebensroman.“ (S. 167)

In diesem Lebensbild hatte Achim von Arnim keinen Platz, wohl aber konnte Bettina, die sich mit ihrer zur Schau gestellten Unerzogenheit oft selbst im Wege stand, was auch zum abrupten Abbruch der Beziehung Goethes zu ihr geführt hatte, sich auf diese Weise in eine Traumwelt zurückziehen, deren Brüche mit der Realität sie zur Kenntnis zu nehmen sich weigerte. Den eigentlichen Höhepunkt ihres Lebens erlebte Bettina tatsächlich erst nach dem unerwarteten Tode Arnims, als sie, endlich die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen erlangend, ihre Kreativität entfalten und die von ihr herbeigesehnte Anerkennung erlangen konnte, bevor sie 1859 starb.

Dagmar von Gersdorff hat diese vielfältigen Daten, Fakten und Quellen zu einer wunderschön zu lesenden Biographie über ein sehr eigenwilliges Paar verwoben und dabei dem Leser durchaus Raum für eigene Betrachtungen und Deutungen gelassen. Auch dieses Buch ist schön gestaltet und durch Reproduktionen bereichert. Beide Bände ergänzen einander zu einem anschaulichen, informationsreichen Zeitgemälde.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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