Eine Rezension von Walter Unze

Eine weitere Biographie über den großen Revolutionär

Jorge G. Castaneda: Che Guevara

Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1997, 630 S.

Der mexikanische Politikwissenschaftler Castaneda (Jahrgang 1953) belegt in seinem Literaturverzeichnis eine Vielzahl von biographischen Arbeiten zu Che Guevara, die seit 1968 in Amerika und Europa erschienen sind. Allein sieben deutschsprachige Bücher zu Che wurden bisher veröffentlicht. Da erwartet man natürlich von einer neuen Biographie auch neue, gründlichere, vielleicht auch objektivere Darstellungen. Der Autor möchte jedoch, daß man seine Arbeit lesen soll wie eine Chronik der sechziger Jahre, die so hektisch, ereignisreich, aber auch vergänglich waren. Denn Che Guevara verkörperte - so der Autor - auf fast mystische Weise den Geist der Epoche der sechziger Jahre. „Seine Kindheit und Jugend, seine Reife und sein Tod sind der Code, mit dessen Hilfe die mystische Begegnung eines Mannes mit seiner Welt zu entschlüsseln ist“ (S. 14), heißt es im Prolog zu den 11 Kapiteln, die dann das Leben Guevaras von der Geburt (14. Juni 1928) und Kindheit in Rosario/Argentinien bis zu seinem gewaltsamen Tod im Oktober 1967 in Bolivien beschreiben.

Das Leben des Revolutionärs, seine Ansichten und Taten werden hier detailliert beschrieben und umfänglich belegt. Allein die Anmerkungen (S. 515-610) umfassen fast 100 Seiten. Man kann also davon ausgehen, daß das bisher bekannte Material zu Che Guevara - von den eigenen Aussagen Guevaras über die Erinnerungen von Angehörigen und Freunden bis hin zu vorliegenden Untersuchungen und Interviews des Verfassers - gründlich genutzt worden sind. Dabei hätte man sich als Leser eine an e i n e r Stelle konzentrierte und komplexe Abhandlung zu den theoretischen Einsichten und Auffassungen des Revolutionärs gewünscht, auch und gerade in ihrem Verhältnis zu anderen Konzeptionen seiner Zeit und unter dem Aspekt der heutigen Entwicklungen. Castaneda zitiert die Positionen vom bewaffneten Kampf und von der Agrarrevolution, er hebt die einzigartige Möglichkeit hervor, die Guevara nach dem Sieg in Kuba hatte („er konnte nach Belieben mit einer ganzen Wirtschaft, einer Gesellschaft und sogar, in einem gewissen Sinne, mit der menschlichen Natur experimentieren“ (S. 245), aber er spricht auch von der abstrakten Ideologie, von der sich Guevara leiten ließ.

Aber die Fragen nach einem einheitlichen Konzept, seiner realen Bedeutung, seiner tatsächlichen Wirkung, seiner heutigen, historischen Bewertung bleiben unbeantwortet.

So vielfältig und reichhaltig also einerseits die Materialien sind, die im vorliegenden Buch angeführt werden, so bleibt doch andererseits beim Leser ein unbefriedigendes Gefühl zu offenen Fragen. Das liegt wohl wesentlich an zwei Dingen. Einmal existiert tatsächlich eine Reihe bis heute ungeklärter Fragen zum Leben und Sterben des Revolutionärs Guevara, zu denen es nur Mutmaßungen oder auch Spekulationen gibt. Castaneda weicht diesen Problemen nicht aus, führt dem Leser die wichtigsten Hypothesen vor, wägt zwischen ihnen auch ab - doch trifft er für sich meist keine klare Entscheidung. Das betrifft die Rolle Fidel Castros, der als einer der geschicktesten und trickreichsten Politiker des 20. Jahrhunderts definiert wird, in seinem Verhältnis zu Guevara, das betrifft die Familienbeziehungen, Liebesverhältnisse - ob beispielsweise Che und Tamara Bunke („Tania“), die eine Art „Groupie der Revolution“ (S. 453) gewesen sein soll, ein Liebespaar gewesen sind, sei unmöglich zu beantworten -, das betrifft das Kongo-Unternehmen, wo die gelungene Flucht Guevaras ein Rätsel sei, das betrifft natürlich seinen Tod in Bolivien.

Zum anderen kann sich der Autor nicht immer eindeutig entscheiden, ob er eine möglichst objektive Biographie des Che Guevara schreibt oder eine Analyse der Verhältnisse der Welt - insbesondere Lateinamerikas und Afrikas - in den sechziger Jahren geben will oder aber eine Bekräftigung des Mythos Che liefern möchte. Wenn es zum Beispiel in dem abschließenden Kapitel 11 (Tod und Auferstehung) programmatisch heißt: „Der Tod Che Guevaras gab seinem Leben einen Sinn“ (S. 486), dann scheint der Mythos Che auch auf den Autor zu wirken. Dem Leser wird sogar suggeriert, Guevara habe seit seiner frühen Jugend „ein christus ähnliches Schicksal ersehnt: ein exemplarisches Opfer“ (S. 438). Andererseits führt der Autor selbst genügend Belege an, die zeigen, wie aus dem erfolgreichen Revolutionär, für den es kein Leben außerhalb der Revolution gab, ein müder, vom Marxismus, dem Sozialismus und der revolutionären Bewegung enttäuschter Mann geworden war - in einem intensiven Lebens- und Lernprozeß und nicht aus vorherbestimmten Wunschvorstellungen.

Dieses neue Buch zu Che Guevara beschreibt so in widersprüchlicher Weise den argentinischen Revolutionär, der auf Kuba siegte, im Kongo verlor und in Bolivien starb und der sich selbst als „einsame Gestalt“ sah, die ohne jede Hilfe ihren Weg suchte und ein „schicksalhaftes Gespür“ für seine historische Pflicht und Mission besaß. Auf eine Biographie, die Che wirklich entmythologisiert, müssen wir also weiter warten.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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