Eine Literaturstätte

Literarischer Montag

Begegnung mit Büchern und Autoren an traditionsreichem Ort - der Meistersaal in der Köthener Straße

Vom S- oder U-Bahnhof Potsdamer Platz liegt die Köthener Straße fast in Rufnähe. Doch Baugruben, hochaufragende Kräne, weiträumige Zäune um Europas größte Baustelle versperren den Weg und die Sicht. Wer im günstigen Moment ankommt, kann die Fährten anderer aufnehmen. Insider, die wissen, wo’s langgeht. Sie haben den Meistersaal in der Köthener Straße längst als gute Kultur-Adresse entdeckt. Der Montagabend gehört hier der Literatur. Kürzlich fiel die Suche leicht. Viele Passanten hatten dasselbe Ziel: Buchpremiere mit Nadine Gordimer. Die südafrikanische Autorin, Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 1990, stellte ihr soeben im Berlin Verlag erschienenes Buch Die Hauswaffe vor.

Eigentlich sind die „Literarischen Montage“ dem Grünen Salon vorbehalten, aber der erweist sich mitunter als zu klein. So fand die Lesung mit Nadine Gordimer im großen Festsaal, dem stilvollen Meistersaal, statt, der dem Gebäude den Namen gab. Aber auch hier reichten die 350 Plätze nicht, und viele hatten sich umsonst auf den Weg gemacht.

Ein Mord bildet die spannende und konfliktreiche Ausgangssituation in Nadine Gordimers neuem Buch. Für das Ehepaar Claudia und Harald Lindgard, Angehörige der privilegierten weißen Oberschicht, gerät ihre geordnete Welt plötzlich ins Wanken, als ihnen ein Bote die Nachricht überbringt, daß ihr 27jähriger Sohn in Untersuchungshaft sitzt. Er hat seinen schwarzen Freund und ehemaligen Geliebten Carl erschossen. Mit einer Pistole, die vielerorts in Südafrika als „Hauswaffe“ weit verbreitet ist - als persönlicher Schutz.

Nadine Gordimer, eine jungwirkende Siebzigerin, liest zunächst die Anfangskapitel in englisch, mit weicher, melodischer Stimme. Nach einer knappen Stunde übernimmt die Schauspielerin Eva Mattes in deutsch.

Bittere Stunde der Wahrheit für die Lindgards im Gerichtssaal. Alle ihre bisherigen Wertvorstellungen sind durch die grausige Tat ihres Sohnes in Frage gestellt. Auch eigenes Verhalten. Selbst von Leid und Gewalt betroffen zu sein macht auch empfindsamer für fremdes Leid und Gewalt, die anderen angetan wird. Quälende Fragen nach Mitschuld, Versagen, die auch darin bestehen können, unangenehme Seiten der Realität nicht wahrhaben zu wollen. Nadine Gordimer, die in ihren Büchern das Leben unter der Apartheid eindringlich beschrieben hat und aktiv den Kampf für die Abschaffung der Rassengesetze unterstützt hat, zeichnet auch hier ein vielschichtiges Bild von Menschen in Zeiten des Umbruchs.

In dem anschließenden Gespräch ist zu spüren, wie froh sie über die demokratischen Veränderungen in ihrem Land ist. Was vollbracht wurde, wenn zum Beispiel schwarze und weiße Kinder gemeinsam die Schule besuchen, sei wie ein Wunder. Stolz ist sie vor allem, daß diese neue Gesellschaft ohne Bürgerkrieg möglich wurde. Für ein langes Gespräch ist es an diesem Montag zu spät geworden. Und viele Zuhörer wollen die Bildkraft der Sprache und den Eindruck von dieser ungewöhnlichen Frau erst noch in sich nachwirken lassen.

Für diese literarischen Montagabende im Meistersaal gibt es mittlerweile ein Stammpublikum. Meist findet es sich im Grünen Salon zusammen. Die Gäste sitzen an kleinen Tischen bei einem Glas Wein oder Kaffee. Oftmals wird auch eine musikalische Tafelrunde geboten. Salonflair mit nachgebauten Schinkelleuchten, grünen Marmorsäulen und Samtvorhängen. Für Kurt Lutz, Direktor des Meistersaales, ist der Montagabend ein Jour fixe der Literatur, bekannte und unbekannte Autoren erhalten hier ein Podium. Das paßt zur Tradition des Hauses. Erhalten geblieben ist ein Plakat mit der Ankündigung für „Donnerstag, den 27. Januar 1921, abends 8 Uhr KURT TUCHOLSKY Vorlesung aus den Schriften von Theobald Tiger / Peter Panter / Ignaz Wrobel / Kaspar Hauser“. 1924 zog der Malik-Verlag von Berlin-Halensee in die Köthener Straße 38 um. Im Erdgeschoß richtete er die Malik-Buchhandlung mit anschließender Galerie Grosz ein. Eine Attraktion für die damalige Zeit bildeten die Schweberegale, die es möglich machten, sich jede Bücherreihe „vor die Augen zu kurbeln“. Aufsehen erregte auch die Ausstellung „Zehn Jahre Krieg“, die erste Fotomontage John Heartfields zur Zeitgeschichte. Ein Foto aus jener Zeit zeigt, wie sich Passanten vor den Schaufenstern der Buchhandlung drängen. Als der Ansturm so stark wurde und den Straßenverkehr behinderte, mußte die Polizei einschreiten. Wieland Herzfelde nennt in seinen Erinnerungen das Domizil in der Köthener Straße eine „wunderbare Einrichtung“. Aber leider wurde es keine Bleibe auf Dauer. Der damalige Eigentümer, der Verband Berliner Hausbesitzer, verlängerte den Mietvertrag nicht. Das politische Programm des Verlages war ihm suspekt.

Lange Zeit schien der Meistersaal als Veranstaltungsort in Vergessenheit geraten zu sein. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als Verbandshaus der Baugeschäfte entstanden, wurden hier im großen Festsaal nicht nur die Handwerksgesellen der Innung zum Meister gekürt. Der gediegene Raum mit der wunderschönen Holzdecke war weithin berühmt wegen seiner für damalige Verhältnisse ausgezeichneten Akustik. Das Haus stand offen für Konzerte, Theateraufführungen, Bälle, Vorträge. Der Zweite Weltkrieg ging an dem ehrwürdigen Gebäude nicht spurlos vorüber. Nachdem die schlimmsten Wunden ausgebessert waren, wurde 1947 ein Comeback versucht, das leider nicht von Dauer war. Mit dem Bau der Mauer geriet dann die ehemals zentrale Lage am Potsdamer Platz zu einem abseitigen Randgebiet. Seit 1994 ist nach umfangreicher Rekonstruktion wieder neues Leben in das traditionsreiche Veranstaltungshaus eingezogen. Kurt Lutz hält an einer Vision fest: Der Meistersaal, in der Mitte der Stadt, sollte ein Mittler sein zwischen Ost und West, das Miteinander, den Austausch befördern helfen. Im vielseitigen Veranstaltungsprogramm hat die Literatur einen festen Platz. Jüngst las Blanche Kommerell aus Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends. Sonja Mikich stellte ihr Buch Planet Moskau. Geschichten aus dem neuen Rußland vor. Helmut Baierl war im Gespräch mit seinem Buch Die Köpfe oder das noch kleinere Organon. Ganzjährig im 98er Programm Die unwürdige Greisin, ein Abend mit Geschichten, Liedern und Lyrik von Brecht und der Musik von Eisler. Kurt Lutz, von Haus aus Schauspieler und Regisseur, einst Leiter des Globe-Theaters im Esplanade, folgt damit nicht nur dem Zeitgeist. Zum 85. Geburtstag Brechts (1983) war er der einzige in Westberlin, der den Dichter mit einer Aufführung Die Gewehre der Frau Carrar würdigte. Warum also jetzt auf eine Reverenz zum 100. verzichten?

Nicht immer findet der „Literarische Montag“ ein so großes Forum wie bei der Lesung mit Nadine Gordimer (in Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Kiepert und der Jüdischen Volkshochschule organisiert). Manchmal sind es in Vergessenheit geratene Dichter, wie der Österreicher Rudolph Stürzer, oder literarische Kostbarkeiten, so Thomas Manns indische Legende Die vertauschten Köpfe, die im Grünen Salon gelesen werden. Zuhören, miteinander reden - vielleicht entsteht wieder eine Salon-Kultur, für die Berlin einst bekannt war.- Und ein literarischer Montag ist im Multimedia-Zeitalter nicht der schlechteste Auftakt für eine neue Woche.

Gudrun Schmidt


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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