Eine Annotation von Sven Sagé
Moltke, Freya von:
Erinnerungen an Kreisau. 1930-1945
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1997, 137 S.
Wir hatten uns nun auch schon an das ganz andere Zeitgefühl des Ostens gewöhnt ... Warten gehörte zum Leben. Mit dieser Erkenntnis verließ Freya von Moltke im Frühherbst 1945 Schlesien. Der Abschied war für immer. Abschied von einer Zeit, einer Landschaft, einem Ort. Der Ort hieß Kreisau. Er ist im Atlas der deutschen Geschichte eingetragen. 50 Kilometer von Breslau, 250 Kilometer von Berlin entfernt, war dem Herrn der 400-Seelen-Gemeinde Kreisau die deutsche Hauptstadt näher als die schlesische.
Berlin wurde zur Keimzelle des Kreisauer Kreises. Nicht das durch die Person des preußischen Militaristen Helmuth von Moltke mythologisierte Gut mit dem Grabe des Feldmarschalls. Die Witwe des am 23. Januar 1945 hingerichteten Widerständlers Helmuth James von Moltke läßt keine Legendenbildung zu. Ihre Erinnerungen an Kreisau. 1930-1945 entziehen der Geschichte alles Gloriose. Was bleibt, das sind die Geschichten von Menschen, die nicht zu Gefolgsleuten der Macht wurden, die statt dessen ihrem Wissen, Gewissen und ihren Möglichkeiten folgten. Freya von Moltke muß nicht noch einmal die vielbeschriebene und -bewertete Historie des Kreisauer Kreises wiederholen. Sie erzählt von persönlichen Lebensumständen und Orten, die es von Moltke, seiner Familie und dem Freundeskreis selbstverständlich machten, gegen die Nazis zu konspirieren. Die Gespräche der Gruppe als Arbeitskreis von Antifaschisten abzutun heißt nicht genug von der Gefährdung zu wissen, die jede Gegnerschaft zu den Nazis zur Folge hatte. Auch die drei Treffen im abgelegenen und geschützten Kreisau mußten gut getarnt werden.
Freya von Moltke holt das Alltägliche in die Historie herein. Nicht, um sich mit der Geschichtsschreibung anzulegen. Nicht, um sie zu korrigieren. Sich zu erinnern bedeutet, von Menschen zu erzählen, die zu historischen Personen wurden, weil sie den Menschen zum Maß ihrer Handlung machten, den die Macht verachtete. Bedeutet vom alltäglichen Tun in Kreisau zu erzählen. Von der Ankunft eines unsicheren, interessierten 19jährigen Mädchens. Vom Auszug der Witwe, die ein Leben hinter sich hatte, das noch immer fortdauert. Die Erinnernde, Mutter zweier Söhne, spricht von der Schwere, das einfache Leben in schwieriger Zeit einfach zu leben. Freya von Moltke erzählt einfach, eindeutig, ermunternd, ermutigend. Sie erzählt Geschichten der Geschichte, die jede Geschichtsschreibung an Genauigkeit übertreffen.