Eine Rezension von Wolfgang Buth

„Wo de Ostseewellen trecken an den Strand ...“

Jutta Stössinger: Badeleben
Literarischer Reisebegleiter von Wismar bis Danzig.

Unter Mitarbeit von Heiner Maier.
Klett-Cotta, Stuttgart 1996, 174 S.

Das vorzustellende Buch Badeleben. Literarischer Reisebegleiter von Wismar bis Danzig gehört zu einer Reihe von Klett-Cotta, in der sich Geographisches und Literarisches aufs beste vereinen. Das gelungene Äußere dieser Reihe - ein stimmungsvolles Farbbild mit ausgestreckten schwarzen Händen, die auf das Ziel der Reise weisen - regt den Literatur- und Geographieinteressierten an, zuzugreifen, zu lesen und zu reisen.

Unsere Reise beginnt in Wismar und geht über Rerik, Kühlungsborn, Bad Doberan, Rostock, Warnemünde, Graal-Müritz, Ahrenshoop und Zingst, Stralsund, Hiddensee, Greifswald, Peenemünde, Heringsdorf [nicht Seringsdorf!], Swinoujscie/Swinemünde, Miedzyzdroje/Misdroy, Kamien Pomorski/Cammin und Kolobrzeg/Kolberg nach Gdansk/Danzig - dies sind die Stationen unserer „literarischen Bäderreise“.

Die Autorin geht davon aus, daß die Ostsee von Warnemünde bis Zoppot ein Synonym für Sommerfrische gewesen ist. „Von Berlin nach Rügen ein Katzensprung. Von Hamburg nach Poel: kaum der Rede wert. Die Pioniere kamen schon um 1800. Die ersten Seebäder entstanden. Die Boheme entdeckte die wildromantischen Steilküsten und irrlichternden Binnenseen, die pittoresken Fischerdörfer. Der Krieg machte dem allen ein Ende.“ (Vom Rücktitel) [Wirklich?] Jutta Stössinger, die sich selbst als Bildungsbürger aus dem Westen bezeichnet, die alle „gern im Geiste mit einem Eimerchen Farbe und einem Säckchen Zement durch den Osten fahren (,Was man daraus alles machen könnte!‘)“, wandelt auf den Spuren der Dichter, die hier lebten und liebten, ihre Werke schrieben oder sich einfach von der herrlichen Landschaft inspirieren ließen. Denn, so die Reiseleiterin, den „Dichtern ist es vorbehalten, Erinnerungen zu schnüren und zu bündeln“. (S. 10) [Auf dem Rücktitel heißt es „schüren“.] Und so sind Franz Kafka, Hans Fallada, Christa Wolf, Erich Kästner, Ricarda Huch, Maxim Gorki, Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Gerhart Hauptmann, die Brüder Mann, Theodor Fontane, Bettina von Arnim, Carl Zuckmayer, Joachim Ringelnatz, Alfred Kerr, Selma Lagerlöf, Ruth Kraft und andere die „dichterischen Begleiter“ auf dieser literarischen Reise. Die Auszüge aus den Werken der Dichter, Schriftsteller und Zeitgenossen ergänzt sie mit ihren eigenen Erlebnissen in dieser Region Anfang der 90er Jahre; sie fragt Einheimische nach der „jüngeren“ Vergangenheit 1945-1990 oder fällt selbst ein Urteil.

Zwischendurch gibt es kleine „Exkurse“ zu ausgewählten Themen/Stätten/Städten: Bei der „Backsteingotik“ am Beispiel Rostocks kommt der Kunsthistoriker Georg Piltz zu Wort; beim „Badeleben“ treffen wir auf sinnige Bemerkungen Georg Christoph Lichtenbergs (hier fehlt allerdings, und das kommt nicht nur einmal vor, die genaue Quelle, die ansonsten im Quellenverzeichnis aufgeführt wird) und erfahren außerdem, daß der Hof-Korbmacher Wilhelm Bartelmann aus Rostock im Sommer 1887 für die rheumakranke Elfriede Maltzahn aus Kühlungsborn den ersten Strandkorb fertigte (heute stehen an „deutschen Gestaden“ der Nord- und Ostsee 50 000 Exemplare); beim Exkurs „Peenemünde“, der Wiege der Raumfahrt, lesen wir Auszüge aus dem Buch Insel ohne Leuchtfeuer von Ruth Kraft, das in der DDR 24 Auflagen und in einem neuen Verlag der neuen BRD bereits 2 Auflagen erlebte; beim Exkurs über den Bernstein, das Gold des Nordens, gehen wir mit Erich Kästner auf Bernsteinsuche und erfahren viel Interessantes (die Geschichte des „Bernsteinzimmers“ hätte, wenn auch verkürzt, doch präziser dargestellt werden müssen; so wird es erst Peter dem Großen geschenkt, dann von der Wehrmacht in Königsberg versteckt, die dazwischenliegende Handlung - Überfall und Raub - aber mit keiner Silbe erwähnt).

Jutta Stössinger spürt (fast) Vergessenes oder (fast) Vergessene auf, wie die Heimatdichterin Martha Müller-Grählert aus dem Ostseebad Zingst/Darß, die hier in der Lindenstraße7 ein bescheidenes Häuschen bewohnte, Geschichten und Gedichte in plattdeutsch schrieb und auf dem alten Friedhof begraben ist. Ihr Name ist fast vergessen, aber ihr Lied kennt jeder: „Wo de Ostseewellen / trecken an den Strand, / wo de gele Ginster / bleuht in'n Dünensand, / wo de Möwen schriegen / grell in't Stormgebrus - / da is mine Heimat, / da bin ick tau Hus.“ (S. 68)

Neu war für mich die Beschreibung des polnischen Teils der Ostseeküste, der früher zu Pommern gehörte. Was den (ost)deutschen Teil der Küste anbelangt, so kann man der Autorin nur bescheinigen, daß sie das Wesentliche der Städte und Urlaubsorte gut darstellt. Was ihr m. E. nicht ganz gelingt, ist die Darstellung der Urlaubsgewohnheiten und Urlaubserfahrungen der Menschen in der SBZ/DDR von 1945 bis 1990, speziell die Ostsee betreffend. Hier zeichnet sie doch ein etwas dunkles Bild, was mit Hans Werner Richters Geschichten aus Bansin (1970) noch düsterer wird: „[Nach 1945] reisten ... Urlauber an, die in Hosenträgern auf der Strandpromenade spazieren gingen, ihr eigenes Bettzeug mitbringen mußten, zu irgendwelchen Arbeitsbrigaden gehörten, täglich [!] Schulungsabende besuchten oder besuchen mußten [!] und mit ihrem eigenen Glück nicht viel anzufangen wußten.“ (S. 116/117) Vielleicht hat dies Richter kurz nach 1945 erlebt, typisch war es für die überwiegende Zeit aber wohl nicht. Schulungsabende? Nein. Vielleicht ein Lichtbildervortrag des Försters oder des Heimatforschers im kleinen Heimatmuseum auf Hiddensee. Und das alles freiwillig. Und das Glück eines Ostseeurlaubs (schließlich war die Ostsee d a s Urlaubsgebiet der DDR, es gab kein Mallorca und keine Dominikanische Republik, und Millionen Menschen erholten sich jährlich in Erholungsheimen der Betriebe und Gewerkschaften) haben wohl alle so empfunden, wie die Autorin Hans Fallada in Als ich ein kleiner Junge war sagen läßt: „Ich bin so glücklich, daß ich gar nicht einschlafen möchte. Ich möchte immer so wach liegen, es ist schade darum, solch Glück zu verschlafen. - Und dann rechne ich mir aus, daß noch 39 solche Ferientage voller Glück vor mir liegen, den Abreisetag nicht gerechnet, und wenn ich 15 Stunden an jedem Tag wach bin, so macht das 585 Stunden Glück, ohne Schule und andere Sorgen.“ (S. 52)

Angefüllt mit vielen stimmungsvollen Fotos von der Reise und aus alter Zeit (köstlich das Schabernack-Foto mit Asta Nielsen und Joachim Ringelnatz auf der Künstlerinsel), trägt das kleine Buch Badeleben. Literarischer Reisebegleiter von Wismar bis Danzig trotz meiner Einwände insgesamt dazu bei, die Vorfreude auf einen Ostseeurlaub „mit den Dichtern im Gepäck“ zu wecken.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite