Eine Rezension von Rainer Jahn
Patricia Shaw: Der Ruf des Regenvogels
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet.
Bastei-Verlag Gustav Lübbe, Bergisch-Gladbach 1996, 672 S.
Es ist der Koel, den die einheimischen Australier den Regenvogel nennen: ein fauler Kerl, der sich nicht aufraffen kann, ein eigenes Nest zu bauen. Er sucht einen nistenden Vogel und verjagt ihn durch furchtbaren Lärm. Dann wirft der Koel die fremden Eier aus dem Nest und ruft mit süßer Stimme einen Partner seiner Art. In dieser Weise etwa, will uns die Autorin sagen, nistet sich die temperamentvolle und kokette Sylvia Langley auf der Farm von Corby Morgen ein, den sie mit ihrer umwerfenden Sinnlichkeit um den Finger wickelt, und in dieser Art sucht sie ihre Schwester Jessie, das ahnungslose Dummchen, eine unauffällige, zurückhaltende, ihrer selbst nicht sichere Frau, aus dem Haus und aus der Ehe mit Corby zu stoßen.
Aber zurück zum Anfang. Wir befinden uns in London, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Der junge, mit Jessie Langley frisch verheiratete Corby Morgan hatte mit seinem Freund Roger einen Ort gesucht, wo man Geld verdienen und das gefällige Leben eines Gentlemans genießen kann. Sie hatten eine Zuckerplantage in der Trinity Bay im Norden von Queensland ins Auge gefaßt, aber dann hatte sich Roger überraschend zurückgezogen. Corby mußte, um die Kaufsumme aufzubringen, seinen Schwiegervater Lukas Langley mit ins Geschäft und ihn und seine Tochter Sylvia mit nach Australien nehmen. Dort entwickelt sich alles über Erwarten gut, Corby ist auf dem Weg, ein sehr wohlhabender Mann zu werden, da verfällt er den Reizen Sylvias. Jessie zieht sich von ihm zurück, und, um das Maß voll zu machen, bricht auch eine Sintflut über die Farm herein, spült alle Gebäude weg und läßt ihn, der alle Warnungen mißachtet, beinahe im Rachen eines Krokodils enden. Von den beiden Menschen, die er kurzsichtig immer als seine Feinde attackiert hatte, edelmütig und unter Mißachtung eigener Lebensgefahr gerettet, überlebt er den Angriff der Bestie, und Jessie, die inzwischen den Aufbau der Farm tatkräftig vorantrieb, bietet ihm erneut die Hand. Aber er schlägt sie aus, wird Hotelier in Port Douglas und heiratet Sylvia. Damit wird der Weg frei für die Ehe Jessies mit dem tüchtigen und selbstlosen Verwalter Mike Devlin, der sie seit langem heimlich verehrt und begehrt.
Patricia Shaw, aufgewachsen in Melbourne, war viele Jahre als Assistentin des Gouverneurs von Queensland tätig, sie wurde schließlich Leiterin des Archivs für Oral History und publizierte Sachbücher über die Besiedlung Australiens - bis ihre Kenntnisse der Geschichte des Landes in vorgerückterem Alter schließlich in einem Roman ihren Niederschlag fanden.
Die Mischung von Familiensaga, exotischen Abenteuern und australischer Geschichte fand viel Anklang, die Autorin war offenbar berauscht vom Erfolg und produzierte nun in rascher Folge Buch auf Buch. Eine australische Familiensaga, Der große Australienroman und Der dramatische Roman des fünften Kontinents hießen die Untertitel von Südland, Sonnenfeuer, Weites, wildes Land und Heiße Erde, denen nun Der Ruf des Regenvogels folgt.
Was anfänglich faszinierte, waren authentische Informationen über den hier noch wenig bekannten fünften Kontinent - Klima, Fauna, Tierwelt, Lebensweise, Zugänglichkeit, Gefahren, Pflanzungen, Geschichte, Besiedlung. Angesichts der lebendigen Schilderungen des Neben-, Mit- und Gegeneinanders von weißen Farmern, Aborigines und schwarzen Südseeinsulanern, von Einwanderern aus China und Italien, von Goldsuchern und Verbrechern, Abenteurern und Squattern, Händlern und Hirten, des Anbaus von Zuckerrohr, Getreide und Tabak nahm man auch Unbehilflichkeiten und Oberflächlichkeiten der neuen Romanautorin bezüglich der handelnden Personen gern in Kauf. Inzwischen hat Patricia Shaw ihre Informationen über das Land hinlänglich ausgebreitet, und folgerichtig wendet sie sich nun stärker ihren Figuren und deren inneren Konflikten zu. Hier hat sie beträchtlich an Erfahrungen gewonnen, sie weiß inzwischen genau, was die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt und worauf es ankommt, ihre Bücher sind spannender geworden, aber auch glatter und konventioneller.
Dabei vertiefen sich eigentlich nur Züge, die von Anfang an vorhanden waren. Erstens: Es gibt kaum wirkliche Überraschungen, alle Entwicklungen sind von der ersten Seite an klar angelegt und voraussehbar. Corby ist zwar energisch und tatkräftig, aber auch herrschsüchtig, egoistisch und uneinsichtig, und da er von der Führung einer Farm wenig versteht und kaum Rat annimmt, muß er schließlich scheitern. Da gleich zu Anfang die Krokodile ins Spiel gebracht werden, vermutet man, daß sein Scheitern damit zu tun haben könnte - und tatsächlich trifft das ein. Jessie dagegen ist eine unauffällige, stille und zurückhaltende Frau, aber man ahnt schon ihr Stehvermögen - und tatsächlich wächst sie in der Not sowohl als Frau als auch als Farmerin über sich hinaus. Zweitens: Licht und Schatten, gute und schlechte Menschen sind wie bei Karl May streng getrennt, daß sich Charaktereigenschaften mischen kommt kaum vor. Und auch hier bekommt jeder den ihm zustehenden Lohn, auch hier findet jeder Topf seinen Deckel, die Autorin sorgt für absolute Gerechtigkeit. Die gute Jessie bekommt ihren engelgleichen Anbeter, den tüchtigen, erfahrenen, geschickten und charakterfesten Mike Devlin, die kapriziöse und bedenkenlose Sylvia dagegen bekommt ihr Idol Leutnant Harry nicht, sondern muß sich letzten Endes mit dem vom Krokodil angeknabberten Corby begnügen. Den brutalen Farmer Edgar Betts, der seine Sklaven knechtet, trifft die verdiente Kugel in die Stirn, der fast autistische Lukas Langley, den die Nöte Jessies kalt lassen, erliegt einem Schlaganfall, die energische Lita Betts bekommt ihren abenteuernden Kapitän, und der Südseeinsulaner Talua kann schließlich, mit Land beschenkt, seine Elly heiraten.
Die Autorin versteht schon, Situationen und Konflikte zuzuspitzen, aber immer im letzten Moment schert sie aus: Da kommt ein Reiter angetrabt und verhindert die Katastrophe. Am Ende bleiben keine Wünsche offen und keine Fragen ungeklärt. Nur: Das Leben ist so nachsichtig und gerecht keineswegs. Das macht nur die verklärte Sicht von Patricia Shaw. Und das macht eben die Grenze ihres Realismus aus. Ihrer Beliebtheit wird das freilich keinen Abbruch tun, weil das Verfahren dem Wohlbefinden vieler Leser dient, die nicht beunruhigt werden wollen und die das erzählerische Talent der Autorin überzeugt.
Australien selbst, wie gesagt, steht hier nicht im Mittelpunkt. Dabei hat sich die Autorin doch einiges entgehen lassen. Corbys Lernprozeß in diesem Land verläuft meines Ermessens viel zu schnell. Es hätten ihm weit mehr Mißgeschicke widerfahren können, bedenkt man seine Unerfahrenheit, seinen Eigensinn, seine Bockigkeit. Am interessantesten ist wohl die Schilderung des Zusammenlebens der ausbeuterischen weißen Farmer mit den zurückhaltend-stolzen Ureinwohnern und den gemieteten oder zusammengeraubten Südseeinsulanern, den für die schwere Arbeit bestimmten Malaita. Aber leider werden die Aborigines und die Kanaka weitgehend als gutmütige oder zumindest beherrschbare und arbeitsame Gruppen behandelt. Und leider wird da weder individualisiert noch differenziert.