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Thomas Freitag
Bertolt Brecht (1898-1956) und Hanns Eisler (1898-1962) in ihrem künstlerischen Schaffen für Kinder
Vorab
Brecht und Eisler, deren 100. Geburtstage begangen werden, gehören zu den
einflußreichsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Ihr realistisches Kunstschaffen gilt als
beispielhafter Versuch der zwingenden Aktivierung von Leser, Zuschauer und Zuhörer, was letztlich
dem Ziel gesellschaftlicher Veränderung dienen sollte. Vieles ist Versuch geblieben, vieles
hat im antizipatorischen Exempel hohe Aktualität.
Brecht und Eisler führen vor, wie von höchster künstlerischer Souveränität aus eine
Vermittlung zwischen Literatur/Theater und Musik/Komposition neuartige Produktivität
hervorbringen kann.
Die Bekanntheit des Autors und Regisseurs Bertolt Brecht und des Komponisten
Hanns Eisler erschließt sich nicht über kindintendierte Sujets, Ausdrucksqualitäten und
Formen. Allerdings ist dieser Aspekt des literarischen und musikkünstlerischen Schaffens
auch nicht bloß additives Moment des Wirkens beider Zeitgenossen. Um kindorientierte
Sujets, eine angewandte Musik ringen beide Künstler ein Leben lang und erreichen darin
höchste Wahrhaftigkeit.
Besitzen Erwachsene ein entwickeltes Verständnis für die Einzigartigkeit kindlichen
Lebens und die Subjektposition des Kindes, dann ist damit noch nicht auf günstige oder
weniger günstige Bedingungen der eigenen Kindheit zu schließen. Bei Brecht und Eisler
- beide aus gutsituierten bürgerlichen Familien kommend - läßt sich wohl aber
belegen, daß besondere kindliche Erlebnisse und Erfahrungen wie auch charakteristisches
eigenes Verhalten mit späterem Kindverständnis zu tun haben.
Die Kindheit Brechts als auch die Eislers zeigt, wie kindlich-natürliches Denken
und Handeln frühzeitig Reibungsflächen zur Welt der Erwachsenen schafft. Es war die
Situation der Wilhelminischen Schule, die beide junge Menschen in Widerspruch
zur Lebensrealität brachte, zu fatalen Grunderlebnissen führte und renitentes
Verhalten nach sich zog.
Schon mit zehn Jahren fand Brecht die Gelegenheit, für literarische Versuche ein
eigenes, außerhalb der Schule stehendes Medium zu entdecken: die
Schülerzeitung. Sein Schulzeugnis von 1916 bescheinigte ihm dagegen: Sein Betragen war nicht
tadelfrei. Wegen Verfehlung gegen die Schulsatzungen wurden vom Lehrerrat
gegen ihn Schulstrafen ausgesprochen. (vgl. Hecht 1988, S. 21) Es ist jene Zeit, in der
Brecht seine plebejische Denkart kultivierte und sich mit frühen Arbeiten als
Bürgerschreck einen Namen machte.
Auch über Eisler wird berichtet, daß er ungern zur Schule ging, ausgenommen davon
war der Musikunterricht. Frühzeitig und intensiv verfolgte er musikalische Ideen, erste
Arbeiten entstanden mit zehn, elf Jahren. Die mit seinem Bruder betriebene Arbeit an
einer Schülerzeitung brachte der Familie polizeilichen Verdacht und Hausdurchsuchung ein.
Brechts und Eislers Kindverstehen im literarischen bzw. musikalischen Schaffen ist u.
a. davon geprägt, daß beide früh schon Verhaltensqualitäten entwickeln, die wenig
Angepaßtheit zeigen, um so deutlicher jedoch eine Ich-Stärkung der Persönlichkeit erkennen
lassen.
Beide Männer, die sich erstmals 1922 begegneten, waren frühzeitig auf künstlerische
Weise tätig. Besonders beeindruckend ist aber die erworbene Kompetenz, mit der sich der
Dichter wie der Komponist in die Verschiedenartigkeit des künstlerischen Metiers des
jeweils anderen einzuarbeiten vermochten. Brecht schätzte Eislers enorme Genauigkeit des
Lesens (Arbeitsjournal, 22. April 1942), Eisler selbst wußte um Brechts entwickeltes
Musikverständnis.
Noch im Jugendalter stehend, erlebten Brecht und Eisler den Ausbruch des Ersten
Weltkrieges. Zwei Jahre später wurde Eisler eingezogen, er verweigerte militärische
Befehle und wurde dafür bestraft. Er schrieb 1917 sein Oratorium
Gegen den Krieg. Der junge Brecht formulierte zur selben Zeit in einem Schulaufsatz: Der Anspruch, daß es süß und
ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, kann nur als Zweckpropaganda gewertet
werden. (ebd.)
Eislers frühe Kinderlieder Mädele, bind den Geißbock an und Kindchen, mein
Kindchen, was soll ich dir singen (ca. 1918) und Brechts Kinderlied vom Brot (1920) sind als
erstes, eher beiläufiges kindbezogenes Schaffen anzusehen. Erst in den 20er Jahren
entwickelten beide Künstler - beide völlig unabhängig voneinander - kinderkulturelle
Positionen, die sich auf die Kenntnis des Lebens einfacher Menschen des Volkes gründeten und in
Widerspruch zur herrschenden Gesellschaftsauffassung gerieten. Brecht reflektierte aus
der Beobachtung der eigenen Tochter Hanne (geb. 1923) Varianzen zwischen der
Eigenwertigkeit kindlichen Lebens und eines fundamentalen Erwachsenenbezugs. Er schreibt:
Mit Kindern kann man, auch wenn sie so erstklassig wie meine Tochter sind, mit
Ausnahme von fotografieren wenig anfangen. Sie sind zu weise und zu defektlos, um interessant
zu sein; ... sie hat Augen, die sie zu einer großen Tragödin machen müssen, wenn sie
nicht einfach nur die Merkmale des Unglücks sein werden. (zit. nach: Hecht 1988, S. 66)
In jener Zeit - 1925 - komponierte Hanns Eisler seine
Zeitungsausschnitte für Gesang und Klavier (op. 11), die neben so unterschiedlichen Textsorten wie Heiratsannonce,
Verscollage, Zitaten aus Schüleraufsätzen auch entromantisierende Lieder wie Mariechen,
Kinderlied aus dem Wedding und Kriegslied eines Kindes enthalten. Notwendige
Entidyllisierung und sogar oppositionelles Denken hatten bereits Paula und Richard Dehmel
oder Joachim Ringelnatz in den Kindervers eingebracht, Eisler geht in der Diktion des
Spotts weiter. Zudem erzielt er musikalisch, z. B. da, wo im Mariechenlied falsches Pathos
des Männerchores charakterisiert wird, beabsichtigte Wirkungen.
Mariechen
Mariechen, du dummes Viehchen!
Ich reiße dir ein Beinchen aus,
dann mußt du hinken auf deinem Schinken.
Dann kommst du ins städtische Krankenhaus,
da wirst du operiert, mit Schmierseif eingeschmiert;
dann kommt der deutsche Männerchor,
der singt dir ein schönes Liedchen vor.
Entwickeltes Verständnis von der Eigenwertigkeit und Eigengesetzlichkeit des kindlichen Lebens ist beiden Künstlern in allen Phasen ihres Schaffens eigen. Im ehrlichen und emphatischen Bekenntnis zu Kindern finden Brecht und Eisler unter so verschiedenen politischen Verhältnissen der Weimarer Republik, des Faschismus, des Exil-Aufenthalts, der Zeit des weltpolitischen Neubeginns nach 1945 wie auch des Lebens in der DDR angemessenen künstlerischen Ausdruck.
Eisler war Privatschüler bei Arnold Schönberg bis 1923 und konnte die denkbar beste,
an der klassischen Musiktradition orientierte Unterweisung erfahren. Über sein
Kompositionsstudium hinaus hatte sich Eisler systematisch mit den Lehren des Marxismus
beschäftigt. Er leitete Wiener Arbeiterchöre und leistete Musikarbeit unter der Arbeiterschaft.
Mitte der 20er Jahre ging er nach Berlin.
Brecht, in dieser Zeit bereits sicher in allen Formen des literarischen Schaffens, verließ
Augsburg und München endgültig, um sich 1924 in Berlin anzusiedeln und durchzusetzen.
Er arbeitete als Dramaturg bei Max Reinhardt. In gemeinsamer Arbeit am Stück Die
Maßnahme (1929/30) lernten sich Brecht und Eisler kennen, es entstand eine
lebenslange künstlerische Partnerschaft. Die Festivalleitung Neue Musik Berlin hatte Die
Maßnahme zur Aufführung abgelehnt, worauf Brecht und Eisler mit einem Offenen Brief
(1930) antworteten und Adressaten ihrer Kunst benannten: Wir nehmen diese wichtigen
Veranstaltungen aus allen Abhängigkeiten heraus und lassen sie von Arbeiterchören,
Laienspielgruppen, Schülerchören und Schülerorchestern aufführen, also von solchen, die weder
für Kunst bezahlen noch für Kunst bezahlt werden, sondern Kunst machen wollen. (1930;
Eisler 1973, S. 103 f.)
In seinen dramatischen Lehrstücken - sie entstanden zwischen 1929 und 1935 -
wollte Brecht auf pädagogisch differenzierte Weise die Schranke zwischen Spielern und
Zuschauern aufheben, neue Kommunikationsstrategien des Theaters probieren, um letztlich
Menschen zu verantwortlichem Handeln zu führen. Neben verschiedenen Komponisten
fand er vor allem in Hanns Eisler einen kongenialen Partner. Als sich das faschistische
System über Hitlers Machtantritt etablierte, richteten Brecht und Eisler ihre Anstrengungen
darauf, nunmehr unter unausweichlichen Verhältnissen des Exillebens mit adäquaten
Mitteln künstlerisch wirksam zu werden.
1932 schrieben Brecht und Eisler die Vier Wiegenlieder für
Arbeitermütter. Die normalerweise vertraute und konventionelle Form des Wiegenliedes wird so verfremdet, daß die
betreffenden Lieder politische Lieder werden. In Als ich dich in meinem Leibe trug (Nr.1), Als
ich dich gebar (Nr.2), Ich hab dich ausgetragen (Nr.3) und Mein Sohn, was immer aus dir
werde (Nr. 4) formuliert Brecht zwingende Aussagen über Ursachen menschlichen Elends.
Eisler extrapolierte den Aussagewert der Texte durch falsche Betonung, durch ein
Schweben zwischen Tonalität und Atonalität. Zur Anklage wird das vierte Brecht-Lied dieses
Eislerschen Zyklus. Sieben Teile bringt der Komponist in die variierte Strophenform,
wobei den reflektierend-beschreibenden Strophen (1, 2 und 5), die die sorgenvolle Mutter
zeigen, eine Mehrheit appellativer Töne (Strophen 3, 4, 6, 7) zur Seite steht. In kleingliedriger
chromatischer Viertel- und Achtelmelodik (verdoppelt im Baß) schildert die Mutter die
Nöte, mit denen sie ihren Sohn konfrontiert sieht, ehe sie über einen punktierten Rhythmus
zu verzweifelten Aufrufen findet. Die Schlußstrophe ist quasi eine Mischung beider
Tonfälle, aus denen die dedizierte und wiederholte Aussage, ... daß es auf dieser Welt nicht
mehr zweierlei Menschen gibt, hervorgeht und befestigt wird.
Wirksame Aufführungen der Brecht-Eisler-Wiegenlieder gab es u. a. 1935 durch die
Spieltruppe Neuer Chor in mehreren Städten der Schweiz. An diesen und vielen weiteren
Gedichten und Liedern wird deutlich, daß Kinder selbst kaum die Adressaten sein
konnten. Brecht und Eisler wandten sich an Erwachsene, vermittelten Erwachsenen
kindbezogene Stoffe mit dem Ziel, Lernen zu lehren. Kindern wird mit großer Ernsthaftigkeit
begegnet, in den Kindern werden oft schon die künftigen Erwachsenen gesehen.
Eisler kompilliert in den dreißiger Jahren eine Sammlung, die er
Pädagogische Musik nennt.
In ihr sind zusammengefaßt:
Sieben Klavierstücke für Kinder op. 32 (1932)
Klavierstücke für Kinder op. 31 (1932)
Sonatine (Gradus ad parnassum) op. 44 (1934)
Präludium und Fuge über B-a-c-h für Streichtrio op. 46 (1934).
In der Einleitung zum Trio Präludium und Fuge über B-a-c-h legt der Komponist dar,
mit welchem Verständnis er Kindern gegenübertritt, mit welchen artifiziellen Ansprüchen
er Kinder vertraut machen will und was Lernen und Vergnügen miteinander zu tun
haben. Es heißt: Aus der neueren Pädagogik wissen wir, daß das Kind nicht so ,kindisch` ist,
wie es der Erwachsene glaubt. (ebd. 1936; Eisler 1973, S. 377)
Und weiter: Selbstverständlich soll das Lehren und Erlernen von musikalischer
Logik nicht in einer trockenen und didaktischen Weise geschehen, sondern in einer
alle Ausdrucksmittel der Musik enthaltenden Weise. Es wurde sogar besonderer Wert
auf das Amüsante gelegt, da das für die Pädagogik besonders wichtig ist ... (ebd.)
Eisler unternimmt hier den Versuch, das 12-Ton-Komponieren in die Musikpädagogik
einzuführen.
Bertolt Brecht schreibt in der Zeit zwischen 1925 und 1937 auch Kindergedichte, die er
dann zur Sammlung Kinderlieder für Helli (Helene Weigel) anordnet. Walter Benjamin
plädierte dafür, die Kinderlieder als vermeintlich private Sache nicht in die Exil-Gedichte
aufzunehmen. Brecht sah hierin die Chance antifaschistischen Wirkens und argumentierte: Sie
haben (gemeint ist das faschistische Regime - Th. F.) nichts Kleines im Sinn. Sie machen
vor nichts halt. Sie schlagen auf alles ein ... Sie verkrümmen das Kind im Mutterleib. Wir
dürfen die Kinder auf keinen Fall auslassen. (BGA Bd. 12, S. 362)
Zu den Gedichten gehören u. a.: Mutter Beimlein, Wo soll das hin?, Die Mutter liegt
im Krankenhaus, Vom Kind, das sich nicht waschen wollte, Hoppeldoppel Wopps
Laus, Mein Bruder war ein Flieger, Kleines Bettellied, Der Gottseibeiuns, Der
Pflaumenbaum. Die fünf erstgenannten Lieder hat Eisler 1937 als
Fünf Lieder für Kindergärten zusammengefaßt, einige davon wurden für eine an Deutschland gerichtete
Radiosendung 1943 ausgewählt.
Im kindbezogenen Schaffen Bertolt Brechts sind zu unterscheiden:
Arbeiten, die unmittelbar an Kinder gerichtet sind und von diesen rezipiert werden,
weiterhin solche, bei denen Erwachsene und Kinder gemeinsam Wege des Lesens und
Kunsterfahrens gehen können. Schließlich finden sich unter den Brechtschen Stücken
mehrere Beispiele, in denen Kind-Figuren im Figurenensemble eines Stücks exponierte
dramatische Funktionssetzungen erfahren. Daß ein Gutteil der Brechtschen Kinderliteratur
auch an Erwachsene gerichtet ist, braucht nicht weiter erörtert zu werden. Es geht nicht
darum, Unschärfen in der Adressierung des Publikums zu erreichen, sondern um
Konsens unter ansonsten breitgestreuten Altersgruppen. Das 1930 erschienene Buch
Die drei Soldaten (mit Zeichnungen von George Grosz) gilt als erstes Kinderbuch Brechts, vorab
charakterisiert Brecht die einzig angemessene, über die Generationengrenzen
hinausgehende Rezeptionsstrategie: Das Buch soll, vorgelesen, Kindern Anlaß zu Fragen geben. (ebd.)
Brechts Gedicht Schlechte Zeit für die Jugend (1937) bringt zwei Jahre vor dem
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges den aufs äußerste zugespitzten Typus des intellektuellen,
wissenden Kindes. Er vereint geschichtliche Wunderkindassoziationen wie auch
Vorstellungen vom klugerwachsenen Kind der pädagogischen Aufklärungsliteratur des 18./19.
Jahrhunderts.
Schlechte Zeiten für die Jugend (Auszug)
...
Und am liebsten liest er
Über die Betrügereien der Geldleute
Über die Schlächtereien der Generäle.
Wenn er das Wort liest, daß unsere Gesetze
Es den Armen und den Reichen verbieten, unter den Brücken zu schlafen
Höre ich sein glückliches Lachen.
Wenn er entdeckt, daß der Schreiber eines Buches bestochen ist
Leuchtet seine junge Stirn
...
Sehr eigentümliche Kindkonstellationen zeigt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder. Courage - die Händlerin und Mutter - steht im Spannungsfeld bescheidenen Gewinnenwollens am Krieg und dem unabwendbaren Opfer ihrer drei Kinder. Die Courage, die angepaßt und unbelehrbar ihren Weg nimmt und zum Scheitern verurteilt ist, bekommt noch am Schluß seltsamerweise in ihrer stummen Tochter Kattrin eine Art Gegenspielerin. Kattrin, physisch beschädigt, gelangt aus ihrem Leid heraus zu bedeutender Lebensstärke, indem sie intuitiv mit ihren Trommelschlägen eine Stadt wachrüttelt, so Menschen aus Angst und drohender Kriegsvernichtung rettet. Sie allein vermag der fatalen Lebensmaxime der Mutter ,Wir können nix machen` etwas entgegenzusetzen und damit ihre kind- liche Subjektivität zur Entfaltung zu bringen. Dies aber unabwendbar um den Preis ihres eigenen Lebens. Herausgehobene Kinderrollen finden sich auch in anderen Brecht-Stücken, z. B. in der Besetzung der Simone in Die Gesichte der Simone Machard. Eisler, der eine Bühnenmusik zum Stück schrieb, lehnte diesen Verfremdungseffekt ab. Er empfand den durch die Kinderrolle dargestellten Konflikt als ungeheuer brutal. (vgl. Bunge-Gespräche, S. 52)
Kindergedicht, Lehrstück, Lied, Kinderbuch, Bühnenstück - in einer Vielfalt
künstlerischer Formen lassen sich Kindbezüge festmachen, ohne daß dieser Aspekt des Brechtschen
Schaffens als vordergründig anzusehen wäre. Kinder sind für Brecht und Eisler unverstellt
in ihrem Vermögen, die sie umgebende Realität zu erkennen und zu erleben. Kinder
schaffen zur Erwachsenenwelt kontrapunktische Ergänzungen, sie werden als Hoffnung einer
neuen Gesellschaft angesehen. In ähnlich vielen Genres hat Eisler auf Kinder orientiert: im
Klavierlied, Chorlied, Liedzyklus, Klavierstück, Streichtrio, in der Kantate und der
Filmmusik (bzw. Suite für Streichorchester), Sonatine.
Aufschlußreicher als die 1938 entstandenen Drei Kinderlieder für Gesang und
Bratsche (nach Texten aus Des Knaben
Wunderhorn) sind die Variationen über amerikanische
Kinderlieder. Die Komposition schuf Eisler 1940, als er im Auftrag der Rockefeller
Foundation systematische Versuche mit Filmmusik durchführen konnte. Die neunteiligen
Kinderszenen sind zu einem existierenden Film geschrieben worden, in ihm sind Kinder im
Tagesrhythmus, beim Spiel, Essen, Schlafen, Streit, bei der Beschäftigung mit Tieren zu
sehen. Jede Szene wird musikalisch pointiert. Unter dem Titel Suite für Septett Nr. 1 (op. 92
a) ist diese Musik später bekannt geworden.
Zentrales Anliegen Eislers war es, die Kluft zwischen hochentwickelten filmischen
Techniken und Klischees der bis dahin existierenden Hollywood-Filmmusik zu überwinden.
Es heißt u. a. in dem von Eisler und Theodor Adorno 1947 veröffentlichten Buch
Komposition für den Film: Aufgabe der Musik war es, den Film von der üblichen, süßlich
sentimentalen und humoristischen Kinderbilder-Romantik der Magazinsphäre fernzuhalten ...
Insbesondere darf die Musik den Kindern nicht auf die Schulter klopfen, sie zum Objekt des
Spaßes von Erwachsenen machen oder sich anbiedern, indem sie selber, nach dem
Schema ,ei ei, wer tommt denn da`, eine verlogene Kindersprache redet. (ebd. S. 192)
Ein herausragendes Werk in Eislers Exilschaffen ist das 1941 komponierte
Woodburry-Liederbüchlein für Frauen- bzw. Kinderchor a capella. Der aus 20 Teilen bestehende
Zyklus verwendet sehr disparate Liedtexte, wobei in den letzten Texten Eisler auch
Selbstreflexionen seines Exildaseins erkennen läßt. Überwiegend aber haben die Songs einen
durchschaubaren Duktus, alte Chortraditionen sind ebenso auszumachen wie
pentatonische Anklänge und einfache Tonmalereien.
In den Jahren des Exils entstehen Brechts große Stücke:
Furcht und Elend des Dritten Reiches, Mutter Courage und ihre
Kinder, Leben des Galilei, Der gute Mensch von
Sezuan, Der kaukasische Kreidekreis. Ohne die Möglichkeiten praktischer Theaterarbeit zu haben,
bereitet er sein großes dramatisches Lebenswerk vor und unternimmt den Versuch, das
Theater zur bedeutenden moralischen Anstalt umzufunktionieren. Das epische bzw.
dialektische Theater Brechts zielt als Gegentheater zur damals bestehenden Bühnenkunst
auf eine weitgehende schöpferische Aktivierung des Zuschauers/Zuhörers, auf die
angemessene Balance und Kontrolle von Gefühl und Verstand. Auf diese Weise schien es
möglich zu sein, menschliche Erfahrung weiterzugeben. Gegentheater, Gegenstück - die
Gegen-Begrifflichkeit spielt bei Brecht, der die grundlegende Veränderung existierender
Verhältnisse im Blick hat, eine zentrale Rolle. Brechts Stücke entstehen immer als
Richtigstellung oder Korrektur - als Gegenstück - zu überlieferten Traditionen. Auch in seinen
pädagogischen Positionen ist die Antihaltung deutlich spürbar, z. B. heißt es in der Schrift
Die Große und die Kleine Pädagogik (1930): Die große Pädagogik verändert die Rolle des Spielens
vollständig. Sie hebt das System Spieler und Zuschauer auf. Sie kennt nur mehr Spieler,
die zugleich Studierende sind. (BGA Bd. 11, S. 396)
Nach dem Ende des Krieges und des Exils gehen Brecht und Eisler schnell daran,
veränderte gesellschaftliche Verhältnisse mitzugestalten. Provokante Töne der frühen
Kampfmusik sind überwunden, zynische Töne nach dem Beispiel Mariechen, du dummes
Viehchen oder Trara tschindra, meine Mutter wird Soldat werden zugunsten
einer freundlichen und fördernden Schaffenshaltung aufgegeben. Eisler analysierte
musikalische Bedürfnisse von Hörern. Er forderte: Wir brauchen dringend für unerfahrene Hörer
leicht verständliche Musik. Es ist schwer genug, sie zu schreiben, ohne in abgenützte
Klischees zu verfallen. (1951; Grabs 1976, S. 205) So ist es auch nicht zufällig, daß Brecht und
Eisler nach dem Kriegsende und im Hinblick auf die Mitgestaltung demokratischen Lebens
versuchten, Kinder zu erreichen. Als sich Eisler 1950 in Ostberlin aufhielt, wollte er die
Zusammenarbeit mit Brecht fortsetzen. Er regte Brecht an, Kinderlieder zu schaffen.
Brecht notierte im Arbeitsjournal (10. 6. 1950): ... fertige in kleinen büscheln kinderlieder für
eisler an. Silberschmiedekunst. Aus den Gesprächen Eisler-Bunge geht hervor, daß der
Komponist mit Nachdruck dieses Genre bediente. Eisler bestätigte, daß Brecht die
Kinderliedersachen eigens für ihn geschrieben hatte. Und wenn es nicht rasch fertig war, war
er direkt enttäuscht. Und er drängte sehr darauf, daß die Dinge auch gesungen und
gedruckt werden. (vgl. Bunge-Gespräche, S. 33)
Brecht veröffentlichte 1950 die Gedichte: Nachkriegsliedchen, Die Pappel vom Karlsplatz,
Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster, Lied vom Kind, das sich nicht
waschen wollte, Kinderhymne, Drachenlied, Vom kriegerischen Lehrer, Willems Schloß,
Aufbaulied. Neben neuen Kinderliedern wurden Gedichte der 30er Jahre erneut
aufgenommen. Zwei Jahre später erscheinen die Kinderlieder im Sonderheft
Versuche, und wieder gab es eine Neuordnung der Gedichte. Eisler unterrichtete Brecht über seine Sorgen
bei der musikalischen Gestaltung: Auch bastel ich an Deinen Kinderliedern, die mir
große Mühe machen. Es ist eben schwer, ein passendes Arrangement zu machen, das weder
vulgär noch verspielt oder gar tölpelhaft modernistisch ist. Ich entwickle mich zum
musikalischen Hypochonder, es ist zum schlechte Laune kriegen. (Brief an Brecht, 13. 8. 1952)
Eisler vertonte: Vom kriegerischen Lehrer, Mailied, Die Pappel vom Karlsplatz,
Willems Schloß, Die Vögel warten im Winter, Kinderhymne. Die Kinderhymne von Brecht
und Eisler (Anmut sparet nicht noch Mühe ...) ist kein eigentliches Kinderlied. Das im Jahr
der Gründung der DDR geschriebene Lied war ausgewählt worden als künftige
Nationalhymne, bis schließlich Johannes R. Bechers Auferstanden aus Ruinen diese Funktion zufiel.
Waren es früher oft Parabeln, mit denen Brecht in Kinderliedern bürgerliches Verhalten geißelte, ging es nun darum, beispielhaftes Verhalten in der neuen Gesellschaft vorzuführen, freundlich, lehrhaft, nicht belehrend, neues Denken anzuzeigen. An traditionelle Kinderliederelemente wird angeknüpft, zugleich werden überlieferte Klischees aufgebrochen. Die Brecht-Eisler-Lieder wurden in der Bundesrepublik weitgehend ignoriert bzw. als parteipolitische Lyrik gekennzeichnet, währenddessen sie in Schulen der DDR schnell Eingang fanden. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Eislers kritisches Verhalten gegenüber den Möglichkeiten und Methoden der Musikerziehung. Er hat sich darüber 1961 geäußert: ... was wir brauchen, ist eine hervorragende Musikerziehung. Die Dummheit kann nur mit Erziehung ausgetrieben werden. Und weiter: Mein Lieblingswort ist: jeder Mensch ist musikalisch, musikalisch begabt. Aber wenn die Musiklehrer auf den Knaben losgehen und unterrichten, wird er in vier Jahren unmusikalisch. (1961, vgl. Bunge 1970, S.34 f.)
Nach dem Tod Brechts und Eislers wurden im politischen Liedschaffen - die
Erneuerungen im Kinderlied eingeschlossen - die Wege traditionellen Komponierens verlassen.
Wolf Biermann brachte Anfang der 60er Jahre den Ausdruck Liedermacher in
Umlauf, er war Schüler von Hanns Eisler und wurde von ihm entdeckt. Biermann schreibt:
Was für ein Mensch, dieser Hanns Eisler! Was für ein behutsamer Lehrer, der die Sorgfalt
und die Aufrichtigkeit besitzt, sich auch zu korrigieren ... der die großdeutsche Tradition
in sich aufgehoben und uns Jüngeren in Form von Liedkompositionen überliefert hat.
(ders., 1997, S. 24 f. und S. 201)
Zur Zeit der 68er Studentenbewegung erreichten die Auseinandersetzungen um antiautori-
täre Erziehung und Initiativen zum Schutz der Rechte der jüngeren Generation auch
schnell das für Kinder bestimmte künstlerische Schaffen und führten zu einer neuen Qualität.
Songs aus Stücken des Berliner GRIPS-Theaters greifen hier ein, Dieter Süverkrüps Baggerführer
Willibald wurde zum Paradigma klassenkämpferischer Artikulation in diesem Genre. Eben
zu dieser Zeit thematisieren Christiane Knauf und Fredrik Vahle in Liedern für Kinder
Unrechtsverhältnisse, autoritäres Verhalten Erwachsener, partielle Schutzlosigkeit und
Schutzbedürftigkeit der Kinder, aber auch die Kraft kindlicher Solidarität. Eines der bekanntesten Lieder
ist Die Rübe (1973). Vahle hat Brecht-Gedichte neu vertont, z. B. Der Pflaumenbaum oder
Ein Fisch mit Namen Fasch. Über 40 Jahre hin wurden Brecht und Eisler geistige Vorbilder
in den Singebewegungen beider deutscher Staaten, abgesehen davon, daß es stets
überzeugende Brecht-Eisler-Interpretationen gab und gibt.
Eine ähnliche gedankliche Verwandtschaft zum Brecht-Eisler-Kinderlied stellte Wolf
Biermann mit seiner Kinderliederplatte Françoise, der Friedensclown von 1977 her. In
der Mischung von Hintergründigkeit und Provokation, Nachdenken lernen und
teilnehmender Unterhaltung setzte der Sänger in diesem Sektor des Liedschaffens hohe Maßstäbe. Mit
der Einteilung der Schallplatte in eine laute und eine leise Seite wurde kindliches Mittun
möglich, aber auch der intellektuelle Anspruch dieser Darbietungskunst relativiert.
So wie politisch intendierte Kunst als affirmative Kunst seit den 70er Jahren an
Einfluß verlor, so verflachten auch in der inzwischen inflationär gewordenen
Liedermacherkultur die einstigen subversiven Ansprüche. Eine der bedenklichsten Erscheinungen im
Kinderliedbereich ist die massive Ideologisierung und Einbindung in die
Machtmechanismen des ehemaligen sozialistischen Staates. Selbst ein für das Vorschulalter bestimmtes
promilitärisches Liedgut schien dadurch legitimiert, daß die Prämisse dauernd bedrohten
Friedens als unumstößlich galt.
Eislers Trommellied von 1958 nach dem unsäglichen Text von Max Zimmering sei in
diesem Zusammenhang erwähnt. Es ist der einzige Zimmering-Text, den Eisler je
vertonte, und alles sieht eher wie ein Mißgriff aus. Das pfiffige Geradeauslied mit seinem
unkindlichen Vokabular (Trommel, Feind, Kampf, Appell usw.) ist nur deshalb
erwähnenswert, weil es ab Mitte der 70er Jahre - nach der Ausbürgerung Biermanns - als
Eingangslied der massenhaft verbreiteten Pionierliederbücher fungierte. Auf diese Weise
wurde versucht, Eisler zu vereinnahmen, und zwar für eine politisch fragwürdige Richtung.
Im Kinderliedschaffen eröffneten sich auch andere Wege. Interpreten wie Fredrik
Vahle, Rolf Zuckowski, Gerhard Schöne, Klaus W. Hoffmann, Reinhard Lakomy und viele
andere erreichen auf sensible und auch stets kritische Weise ein großes Publikum. Ihr lang
anhaltender Erfolg zeigt kindnahe Schaffenshaltungen.
Literatur:
Adorno, Theodor W./Eisler Hanns: Komposition für den Film (Originalausgabe 1947),
Leipzig 1969
Betz, Albrecht: Hanns Eisler - Musik einer Zeit, die sich eben bildet, München 1976
Biermann, Wolf: Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen, Köln 1997
Brecht, Bertolt: (BGA) = Brecht-Gesamtausgabe, Frankfurt/M. 1988
ders.: Zum Geleit der Lieder und Kantaten Hans Eislers (10 Bde.), Leipzig 1956 ff.
Bunge, Hans: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch, München 1970
Eisler, Hanns: Musik und Politik. Schriften 1924-1948 ff. Leipzig 1973.
Grabs, Manfred: Hanns Eisler: Kompositionen - Schriften - Literatur. Ein Handbuch,
Leipzig 1984
ders.: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1976
Hecht, Werner: Bertolt Brecht - Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt/M. 1988
Hennenberg, Fritz(Hg.): Brecht-Liederbuch, Frankfurt/M. 1985
ders.: Hanns Eisler (ro-ro-ro-Bildmonographie), Hamburg 1987
Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder der Umgang mit den
Welträtseln (2Bde.), Berlin/Weimar 1988