Klaus Ziermann
Anmerkungen zu zwei bemerkenswerten Veröffentlichungen
Auch wenn die meisten der angebotenen statistischen Angaben über Buchproduktion und -vertrieb ein Jahr zurückliegen, muß man die jährlich erscheinende Publikation Buch und Buchhandel in Zahlen1, die Ausgabe 1997 beschreibt das Jahr 1996, genau zur Kenntnis nehmen, wenn man sich ein detaillierteres Bild über die hauptsächlichen Trends auf dem deutschen Buch- und Taschenbuchmarkt verschaffen will.
Die 1997er Ausgabe beginnt verheißungsvoll, mit guten Nachrichten für Verleger und Buchhändler: Der deutsche Buchmarkt hatte 1996 ein geschätztes Volumen von 17,2 Milliarden DM zu Ladenpreisen ..., lautet der einleitende optimistische Kommentar zur wirtschaftlichen Lage. Darin enthalten sind Vertriebserlöse von Fach- und wissenschaftlichen Zeitschriften in Höhe von 1,6 Milliarden DM. Der Gesamtmarkt wuchs im Vergleich zum Vorjahr um 4,2 %. Dies ist das stärkste Wachstum seit den wiedervereinigungsbedingt hohen Umsatzzuwächsen der Jahre 1990 und 1991. Bei einer leicht überdurchschnittlich hohen Zuwachsrate von 4,3 % entfiel auf den Umsatz mit Büchern ein Volumen von 15,6 Milliarden DM. (S. 9)
Optimistisch stimmen im Grundsätzlichen auch die Angaben über Freizeit- und Medienverhalten der Bundesbürger: 72 % der Deutschen im Alter ab 14 Jahren sind an Büchern interessiert; großes Interesse an diesen Medien zeigen 30 %. (S. 11) 52 % der Verbraucher in Ost- und Westdeutschland kauften in den letzten 12 Monaten Bücher, davon 42 % mehr als zwei. (S. 14) Jeder fünfte Deutsche - 22 % in den alten und 13 % in den neuen Bundesländern - war 1996 bereit, für einen Hardcover-Titel 40 DM und mehr auszugeben. 13 % der Verbraucher im alten und 7 % im neuen Bundesgebiet erklärten sich auch einverstanden, 20 DM und mehr für ein Taschenbuch bezahlen zu müssen.
Offensichtlich bewegt sich der deutsche Buchmarkt mit stabilem Wachstum auf das 3. Jahrtausend zu. Die jährliche Titelproduktion überstieg 1994 erstmalig die 70 000-Titel-Grenze und ging seitdem nicht mehr unter sie zurück. Nach dem Rekordjahr 1995 mit 74 174 Titeln waren es 1996 71 515: 53 793 Erstauflagen und 17 722 Neuauflagen. Auf die Taschenbuchproduktion entfielen 1996 insgesamt 10 433 Titel = 14,4 % der jährlichen Titelproduktion. Wie aus Grafik 22 ersichtlich, brachten es Bücher in losen Bogen oder Blättern, Loseblattwerke auf 14,2 %, Adreßbücher sogar auf 15,3 % der mengenmäßigen Buchproduktion. (S. 58)
Die Umsätze der Buchverlage erhöhten sich im Vergleich zum Vorjahr durchschnittlich um 5,1 %, ist auf S. 9 zu erfahren, doch genaue Daten über die Umsatzentwicklung, exakte Angaben über die marktbeherrschenden Verlagseinheiten oder die Hauptprofiteure werden nur ganz allgemein gemacht: Wo es um die Höhe von Profiten der größten Verlagskonzerne - Bertelsmann, Holtzbrinck und anderer - geht, herrscht in den jährlichen Publikationen des Börsenverein des deutschen Buchhandels wie eh und je gänzliches Schweigen oder es wird eine seit langem erprobte Verschleierungstaktik angewandt, weil nur ein ausgewählter Teil von kleinen, mittleren und großen Verlagen in Befragungen einbezogen wird, Verlagsgruppen und Konzerne aber nicht berücksichtigt werden. Tabelle 8: Steuerpflichtige Buchverlage (inkl. Adreßbücher) nach Umsatzgrößenklassen weist lediglich aus, daß es in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen 26 Verlage mit Umsätzen von 100 Millionen DM und mehr gibt. (S. 29) Aus Tabelle 10: Geschätzte Umsätze buchhändlerischer Betriebe zu Endverbraucherpreisen 1992-1996 ist zu entnehmen, daß 1996 59,7 % des Gesamtumsatzes (+ 3,2 %) auf den Sortimentsbuchhandel, 15,2 % auf die Verlage direkt (+ 7,7 %), 6,7 % auf den Reise- und Versandbuchhandel (+ 9,8 %), 4,9 % auf die Warenhäuser (+ 1,4 %), 3,9 % auf die Buchgemeinschaften (-1,4 %) und auf Sonstige Verkaufsstellen entfielen 9,6 % (+ 5,3 %). (S. 31)
Die Dominanz der alten Bundesländer in der Buchproduktion ist nach wie vor augenscheinlich. Bei der jährlichen Titelproduktion brachte es Bayern 1996 auf einen Anteil von insgesamt 25,4 %, Baden-Württemberg auf 20,3 %, Nordrhein-Westfalen auf 16,4; Hessen auf 13,5 und Berlin-Brandenburg auf 9,6 %. (S. 69) Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen - vor 1933 die einstige Hochburg der Buchproduktion und des Buchhandels in Deutschland - erzielten 1996 zusammen 1,9 %. Insgesamt erhöhte sich der Titelausstoß der Buchverlage in den neuen Bundesländern auf 2 580 Titel. Sie erzielten damit einen Anteil von 3,6 % an der gesamtdeutschen Buchproduktion. (S. 60)
Die bayerische Führungsposition wurde auch durch die Dominanz Münchens unter den deutschen Verlagsstädten noch erhärtet. Mit 13 527 Titeln rangierte die bayerische Hauptstadt 1996 mit deutlichem Abstand vor Berlin mit 6 705, Stuttgart mit 5 790, Frankfurt am Main mit 5 738, Hamburg mit 2 412 und Köln mit 2092 Titeln. (S. 70)
Der umfangreichste geistige Beitrag zum Buchangebot kam - nach Sachgruppen - von den Sozialwissenschaften: Sie brachten es 1996 auf 15 741 Titel = 22,0 %. Sprach- und Literaturwissenschaft, Belletristik brachten es auf 12 798 Titel = 17,9 %, Angewandte Wissenschaften, Medizin, Technik auf 10 588 Titel = 14,8 % und Geographie, Geschichte auf 9695 Titel = 13,6 %. (S. 62/63)
Die augenscheinlichste Veränderung des letzten Jahrzehnts in der inhaltlichen Struktur der Buchangebote bestand in einem deutlichen Rückgang des Belletristik-Anteils. Hatte die belletristische Buchproduktion 1989 (die Belletristik der Kinder- und Jugendliteratur mit gerechnet) in der Bundesrepublik noch einen Titelanteil von 24,6 %, in der DDR sogar von 36,2 %, so ging er im wiedervereinten Deutschland in den neunziger Jahren Schritt um Schritt zurück. 1996 betrug er mit 9 622 Titeln gerade noch 13,6 %. Zusammen mit der Kinder- und Jugendliteratur kam die Belletristik auf 14 224 Titel = 19,9 % der gesamten Buchproduktion. Lediglich in der Taschenbuchproduktion nahm die Belletristik sowohl in der Titelanzahl als auch in der Auflagenhöhe nach wie vor ein Vorrangstellung ein: Mit 5001 von 10 433 Titeln erzielte sie 47,9 %, zusammen mit der belletristischen Kinder- und Jugendliteratur sogar 5 879 Titel = 60,3 % der gesamten jährlichen Titelproduktion aller deutschen TB-Verlage. (S. 64/65)
Der Durchschnittsladenpreis aller 1996 in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten Einzeltitel lag - wie auf S. 89 zu erfahren ist - bei 41,05 DM. Die höchsten Durchschnittspreise für Neuerscheinungen hatten die Sachgruppen Chemie mit 286,11DM, Nachschlagewerke, Bibliographien mit 165,65 DM und Physik, Astronomie mit 148,73 DM aufzuweisen. In der Belletristik lag er - Taschenbücher inklusive - bei 19,48 DM. (S. 91)
In der internationalen Buchproduktion nahm die Bundesrepublik Deutschland - nach UNESCO-Angaben aus dem Jahre 1994 - den dritten Platz ein. Sie rangierte mit ihren 70643 Titeln hinter der Volksrepublik China mit 100 951 Neuerscheinungen und Großbritannien mit 95 015 Titeln. Mehr als 40 000 Neuerscheinungen wurden aus den Vereinigten Staaten von Amerika (51 863 Titel) und Frankreich (44 261 Titel) gemeldet. Weitere titelstarke Länder sind mit mehr als 30 000 Neuerscheinungen Japan (35 496 Titel im Jahr 1992), Südkorea (34204 Titel), Italien (32 673 Titel) und die Russische Föderation (30 390 Titel). (S. 72)
Spezifische Aspekte der internationalen Verwurzelung der deutschen Buch- und Taschenbuchproduktion bietet der Teil Übersetzungen und Lizenzen. 9 791 Neuerscheinungen des Jahres 1996 auf dem deutschen Buchmarkt waren Übersetzungen, insgesamt 13,7 % aller Titel. Sie kamen aus 55 Sprachen. Die meisten Übersetzungen ins Deutsche stammten - wie auch in den Jahren vorher - aus dem Englischen: insgesamt 7 281 Titel = 74,4 %. Bei den Sachgruppen war die Belletristik mit 4 356 Titeln = 44,5 % führend; zusammen mit der Kinder- und Jugendliteratur stellte sie 57,5 aller Übersetzungen ins Deutsche. Das englisch-amerikanische Sprachgebiet hatte auch in der Belletristik mit 3 351 Titeln = 76,9 % den höchsten Übersetzungsanteil. (S. 78)
Anders sah es bei den Lizenzen aus: 1996 vergaben die an der Lizenzumfrage des Börsenvereins beteiligten Verlage insgesamt 4 481 Lizenzen in 55 Länder. (S. 80) 59 % dieser Lizenzen entfielen auf die Sprachen Polnisch (9,3 %), Tschechisch (9,2 %), Englisch (7,9 %), Italienisch (7,6 %), Spanisch (6,7 %), Französisch (6,4 %), Niederländisch (6,0 %) und Russisch (5,5 %). Die Sachgruppen ,Kinder- und Jugendliteratur (16,7 % an allen ins Ausland vergebenen Lizenzen) und ,Belletristik (13,9%) waren in bezug auf die Lizenzvergabe deutscher Verlage ins Ausland die beiden wichtigsten Segmente. Anteile von je über fünf Prozent aller Lizenzvergaben entfielen auf die Sachgruppen ,Philosophie, Psychologie (7,5%), ,Land- und Forstwirtschaft, Hauswirtschaft, Kochen (7,5 %) sowie ,Medizin (6,5 %), heißt es im Resümmee von Buch und Buchhandel in Zahlen 1997. (S. 84)
Mehr ins Detail in puncto Belletristik, geht der von Reclam herausgegebene Jahresüberblick Deutsche Literatur 19962.
Hubert Winkels kommentiert in seiner Einleitung auf 24 Druckseiten Zur deutschen Literatur 1996 das Gesamtgeschehen. I. Erinnerungen, II. Fernweh und Rauchzeichen, III. Heimatkunde, IV. Verkörperungen und V. Verse - Diverses sind die Eckpunkte, die er markiert.
In der Chronik, erarbeitet von Katharina Frühe und Franz Josef Görtz, wird auf 110 Seiten der eigentliche Jahresüberblick geboten: Er reicht vom Kommentar der Frankfurter Rundschau zum Streit um das Berliner Ensemble, datiert vom 4. 1., und einer Stellungnahme der Süddeutschen Zeitung vom 5. 1. zu Peter Handkes Gerechtigkeit für Serbien - Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina bis zur Notiz der FAZ vom 23. 12. über den Tod der Schriftstellerin Christine Brückner und einer Notiz vom gleichen Tag, daß Peter Handke von Aleksa Buha, dem Außenminister der bosnischen Serben, in Pale empfangen worden sei. Den Abschluß dieses Teils bildet ein Preistelegramm - eine dreieinhalbseitige Liste, wer die wichtigsten Literaturpreise der Bundesrepublik im Wert zwischen 60 000 und 5 000 DM entgegennehmen konnte.
Unter Neue Bücher, verantwortet von Hubert Winkels, werden insgesamt 163 Neuerscheinungen angezeigt: von Christoph W. Aigners Gedichtband Das Verneinen der Pendeluhr und Jürg Amanns Erzählband Rondo und andere Erzählungen bis zu Eva Zellers Spurensuche nach Katharina von Bora Die Lutherin und Gerald Zschorschs Gedichten Eiserner Felix. 25 Rezensionen gelten 21 der neuerschienenen Bücher, je zwei den Romanen Thanatos von Helmut Krausser, Animal triste von Monika Maron, Finks Krieg von Martin Walser und Medea von Christa Wolf - offenbar, so muß ich annehmen, denjenigen Büchern, die die deutsche Literatur 1996 am meisten repräsentierten.
In Überblick und Debatte, zusammengestellt von Volker Hage, geht es ausschließlich um die Presse-Reaktionen auf Peter Handkes Gerechtigkeit für Serbien. Sie werden in ausgewählten Beiträgen dokumentiert, weniger kommentiert. Der Streit um Peter Handkes Schrift Gerechtigkeit für Serbien(so der Titel des dem Buch vorangehenden Abdrucks in der Süddeutschen Zeitung) berührte - anders als die Debatten der Vorjahre - nur am Rande literarische und ästhetische Aspekte. Und doch war die Diskussion über Text und Auftritt des Autors wochenlang von solcher Heftigkeit, daß die Präsentation einer kleinen Auswahl daraus naheliegt ... Im Kern der Auseinandersetzung geht es freilich immer wieder beharrlich um die inhaltliche Frage der serbischen Kriegsschuld, heißt es in einer Vorbemerkung. In Beiträgen von Peter Schneider, Wolfram Schütte, Willi Winkler, Lothar Baier, Volker Hage, Marusa Krese, Andreas Breitenstein, Stephan Sattler, Jürgen Buse, Peter Glotz und Andrea Köhler sind der Ablauf der Debatte dokumentiert und die unterschiedlichen Positionen nachvollziehbar.
Inwieweit ist der 16. Jahresüberblick dieser Art aus dem Reclam-Verlag überhaupt repräsentativ? fragte ich mich nach Beendigung der Lektüre. Daß Günter de Bruyns Lebensbericht Vierzig Jahre und Martin Walsers Roman Finks Krieg rezensiert wurden, leuchtete mir ein. Aber warum nicht auch Sarah Kirschs Gedichte Bodenlos oder Victor Klemperers Tagebücher Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum oder Siegfried Lenz' Erzählungsband Ludmilla? Die Kriterien der Auswahl blieben im unklaren. Waren es persönliche Ambitionen der Herausgeber? Immerhin: 1996 gab es in der deutschen Buchproduktion 9622 belletristische Titel, davon 6 504 Erstauflagen. Lediglich etwas mehr als 2 Prozent wurden im Reclam-Band überhaupt erwähnt, weniger als 1 Prozent rezensiert.
Und noch ein anderer Umstand ließ mich stutzig werden: In dem Reclam-Jahresüberblick fehlten von den sieben meistverlegten deutschen Belletristik-Autoren der Gegenwart, die 1996 mehr als 100 Titel jederzeit abrufbar im Jahresangebot der Buchhandlungen zu verzeichnen hatten - es sind dies: Janosch (Horst Eckert) mit 233, Heinz G. Konsalik mit 232, Siegfried Lenz mit 121, Marie Louise Fischer mit 116, Peter Härtling mit 110, Wolfgang Hohlbein mit 110, Martin Walser mit 102 und Hans Mayer mit 101 Titeln -, vier völlig. War das Zufall? Oder liegt es an einem schulgermanistischen Literaturbegriff, der sich - zumindest in einigen wichtigen Bereichen - abseits vom realen Literaturprozeß bewegt?
1 Buch und Buchhandel in Zahlen 1997
Herausgegeben vom Börsenverein
des deutschen Buchhandels e.V.,
Frankfurt/M. 1997, 126 S.
2 Deutsche Literatur 1996 - Jahresüberblick
Herausgegeben von Volker Hage und
Hubert Winkels in Zusammenarbeit
mit Katharina Frühe.
Philipp Reclam jun., Stuttgart 1997, 340 S.