Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen
Vom Unbehagen an der Einheit.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 208 S.
Der Verlag hat sich wohl für das Manuskript, das er bestellt, aber sicher so nicht erwartet hat, gerächt, indem er es in ein undefinierbares Cover hüllte und in Nonpareille setzen ließ, damit es ältere Leute nur mit der Lupe lesen können. Da wird dann wohl der Wunsch schwer realisierbar sein, es möge zur Pflichtlektüre für das Bundeskabinett und die Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erhoben werden. Ist doch gerade letztere darauf aus, das DDR-Unrechtssystem und seine Protagonisten , ebenso wie die ihr zugrunde liegende Ideologie in einer Weise zu delegitimieren, daß es ehemaligen DDR-Bürgern oftmals schwer wird, ihr eigenes Leben wiederzuerkennen. Hier nun meldet sich jemand mit seiner Biographie, seinen Erlebnissen und Erfahrungen zu Wort und ist kein profilierter Vertreter jenes untergegangenes Staates (wie lächerlich nehmen sich die Erinnerungsbücher der ehemaligen DDR-Politiker dagegen aus, die nur der Selbstrechtfertigung dienen!), sondern eine Schriftstellerin, die erst eine wurde, als sie in der DDR nicht mehr als Journalistin arbeiten konnte, die als aufmüpfig galt, später den Demokratischen Aufbruch mit begründete und der Unabhängigen Untersuchungskommission angehörte.
Ihr Ausgangspunkt ist, daß jüngsten Umfragen zufolge nur noch jeder dritte Ostdeutsche die BRD-Ordnung akzeptiert, und daß jeder zweite angibt, daß es ihm heute schlechter geht als erwartet. Daniela Dahn (48) spürte dieser Unzufriedenheit, diesem Unbehagen an der Einheit nach - bei sich und bei anderen. Herausgekommen ist eines der aufregendsten Sachbücher der letzten Jahre, weil hier umfangreiches Material zusammengetragen, sachlich bewertet und mit schlüssigen Folgerungen versehen wurde; weil es so persönlich, engagiert, selbstbewußt und doch stets durch Fakten belegt ist. Weil es so glänzend formuliert ist, als sei es in einem einzigen Zuge heruntergeschrieben: ein Essay, das von der ersten bis zur letzten Zeile packt.
Ja, es empört sie, die seinerzeit auf mancherlei Widerstand gestoßen ist, daß heute alles, was an die DDR erinnert, nur mit Assoziationen wie Regime, Unrecht, Altlast und Terror verknüpft wird. Sie fühlt sich veranlaßt, das bis zur Unkenntlichkeit verzerrte DDR-Bild zu versachlichen. Sie aktiviert ihre Erinnerung und schildert ihre Kindheit, ihre Jugend, ihren beruflichen Entwicklungsweg, ihre Auseinandersetzungen und Zusammenstöße. Das ist rundum glaubhaft und ausgewogen, und viele Ostleser werden sich wiedererkennen. Begangenes Unrecht wird weder verleugnet noch relativiert. Es wird kein Thema ausgelassen: Stasi, Mauer, Reisebeschränkungen, Zensur. Aber es werden auch Ereignisse und Erfahrungen aus BRD und USA einbezogen, und die Schlußfolgerung lautet: Die Unterschiede im Denken und Handeln in West und Ost sind nicht so gravierend, daß sie eine Unterteilung in gute Demokraten und böse Buben rechtfertigen. DDR-Verfehlungen würden heutzutage lautstark angeprangert, aber wer erinnert an 150 000 Ermittlungsverfahren gegen Andersdenkende in der BRD, an polizeistaatliche Gesinnungsjustiz und Gesinnungsschnüffelei (1951-1968), an den verfassungswidrigen Extremistenbeschluß und Berufsverbote (1972)? Nehme man noch die juristische und finanzielle Bevorteilung der Altnazis, die staatliche Unterstützung von Unrechtsregimen, den illegalen Waffenhandel, Korruption, Vereinigungskriminalität und die Nichteinhaltung des I. Staatsvertrages über die Wirtschaftsunion mit der Folge entschädigungsloser Enteignung der Ostdeutschen hinzu, könne man mit einer Mischung aus begründeten Fakten und Demagogie unter Umständen ebenfalls von einem Unrechtsstaat sprechen. Anlaß zu selbstgerechter Siegerpose kann ich jedenfalls nicht erkennen.
Das ist natürlich bewußt zugespitzt, dagegen fehlen Hinweise auf die Unterschiede der Staatsgründung, die manche Repressionen und Mangelerscheinungen in der DDR erklärbar machen: Während Westdeutschland aus Gründen des Antikommunismus von den USA ökonomisch aufgepumpt und recht bald in die Unabhängigkeit entlassen wurde, laugte die Sowjetunion Ostdeutschland per Reparationen regelrecht aus, sie hielt den neuen Staat über Jahrzehnte in politischer und ökonomischer Abhängigkeit.
Die Autorin bedauert, daß nach Herstellung der Einheit jeder alternative Ansatz, der in der DDR versucht wurde, ohne Prüfung sofort auf den Scheiterhaufen geworfen wurde. Die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes, die Herstellung lebensfähiger genossenschaftlicher Betriebe, die entschädigungslose Enteignung der Schwerindustrie und die Vergesellschaftung der Großbanken war schließlich erklärtes Programm der deutschen Sozialdemokratie (Prager Manifest 1934) und wurde nur in der DDR realisiert. (Hier fehlt eine Erwägung, ob dieses ökonomische System, das ja desaströs gewirkt hat, auch effektiv hätte genutzt werden können.)
Auch, daß die sozialen Menschenrechte einklagbar waren, daß es weder Arbeits- noch Obdachlose gab, habe nicht zu den Nachteilen der DDR gehört. Und daß die Einkommensbreite, d.h. die Spanne zwischen höchstem und niedrigstem Verdienst, in der DDR nur 7:1 (in der BRD 160:1) betrug, die weitgehende Abwesenheit von Privateigentum, von Erbschafts- und Steuerangelegenheiten, vom Primat des Geldes also, habe die Ostmentalität eben nachhaltig und nicht nur nachteilig geprägt.
Heute gewöhne sich die Mehrheit der Ostdeutschen sehr schwer an eine Million Obdachlose, sechs Millionen Arbeitsuchende und acht Millionen nahe der Armutsgrenze.
Die Erinnerung an eine Zeit der Abwesenheit existentieller Ängste sitze tiefer als erwartet, und die Planwirtschaft werde von der Mehrheit wahrlich nicht als effizientere, wohl aber als sozialere und menschlichere Ordnung angesehen.
Die Arbeitslosigkeit geht durch das Land wie ein neues Regime der Furcht, das keine Stasi braucht, um die Menschen einzuschüchtern (Heiner Müller). Viele hätten die Erfahrung gemacht, daß der früher empfundene Druck sich nur verlagert, aber nicht geringer geworden ist: die Diktatur der Weltanschauung wurde durch die Diktatur des Kapitals abgelöst, die Summe der Pressionen sei gleich. Und die wesentlichen Entscheidungen würden außerhalb der Demokratie gefällt ...
Das heutige Gefühl der Deklassierung, das sich allein der Tatsache verdankt, einst in der DDR gelebt zu haben, resultiere auch aus einer Ungleichbehandlung, die das Rechtsempfinden verletze. Nazibeamte, einschließlich Gestapo- und SS-Offiziere, hatten in der BRD Anspruch auf Übernahme bzw. volle Alters- und Kriegsopferrente.
Staatsnah in der DDR Beschäftigten wurde das nicht gestattet: Viele wurden entlassen, die Renten reduziert. Mancher sah sich als Rentner belohnt für seine Dienste in Hitlers Armee und bestraft für seine Arbeit im Honecker-Staat. DDR-Richtern wird heute für überzogene Urteile der Prozeß gemacht, aber Nazirichter, die zahllose Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt hatten, waren freigesprochen worden, weil sie dem Recht des Staates auf Selbstbehauptung zum Durchbruch verholfen hätten.
Realisierte Rückübertragungsansprüche westdeutscher Bürger, zum Teil noch aus den zwanziger Jahren, führten in den neuen Bundesländern massenhaft zu Existenzkrisen. Anträge Ostdeutscher auf Rückübertragung in Westdeutschland enteigneter Immobilien aber wurden abgeschmettert (Ansprüche in den alten Bundesländern verjährt).
Sind die Ostdeutschen nicht undankbar angesichts des Finanztransfers, mit dem ihnen geholfen werden soll? Diese Frage beantwortet Daniela Dahn wie folgt: 95 Prozent des Volkseigentums, also Betriebe und Grundbesitz, zahllose Immobilien, Hotels und Schlösser sind in westliche Hände übergegangen. Eine entschädigungslose Enteignung - da mag bei vielen keine rechte Dankbarkeit aufkommen. Außerdem: Wir sind 1990 einer Verschuldung der öffentlichen West-Haushalte von 1,2 Billionen Mark beigetreten. Die Folgen tragen auch wir Ostdeutschen nun solidarisch mit. (Von den DDR-Schulden ist leider nicht die Rede.)
Es ist unmöglich, auf die Vielzahl der Aspekte auch nur andeutungsweise einzugehen. Das fakten- und gedankenreiche Buch warnt jedenfalls, die DDR auf das von ihr fraglos verübte Unrecht zu reduzieren. Das sei Kolonialmentalität, räche sich in verschiedensten Formen des Osttrotzes und entziehe dem Weg zur Einheit wichtige Erfahrungen. In diesem Zusammenhang wird dringender Reformbedarf für Demokratie und Marktwirtschaft angemahnt, die laut Club of Rome in ihrer jetzigen Form ungeeignet sind, das Überleben der Menschheit zu garantieren.
In der DDR konnte manches nicht gedruckt werden; was aber erschien, wurde von den Lesern sogar hinsichtlich einer Botschaft zwischen den Zeilen abgeklopft. In der BRD darf alles gedruckt werden, aber das Gedruckte wird der schier unübersehbaren Masse wegen kaum zur Kenntnis genommen. Welches Schicksal wird wohl diesem Buche bestimmt sein, dem vielleicht profundesten und wichtigsten zum Thema ,Ostalgie?
Henry Jonas