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Anke Scholl

Das Hirn ist ein
metamorphosiertes
Rückenmark

Durs Grünbein und das Ende der Geschichte


„Um von vorn zu beginnen, - der Anfang / Liegt in den Tagen danach.“ (in: Georg Büchner, Über Schädelnerven) Danach ist in Grünbeins Fall die Zeit nach der Mauer, nach der DDR, nach dem Sozialismus als Staatsform; danach ...

Durs Grünbein wurde oft aufgrund seiner Herkunft und der dort herrschenden Umständen festgelegt: In der ehemaligen DDR aufgewachsen, ist er, wie Brecht es nennen würde, ein Nachgeborener. Im literarischen Kanon wird er als einer gehandelt, der die Wiedervereinigung und die Zeit danach, zum Thema seiner Gedichte gemacht hat. Was lange in der Lyrik vermißt wurde, der Rückbezug zum aktuellen Tagesgeschehen, fanden die beurteilenden Instanzen bei Grünbein. Kritische Alltagsrealitäten in Versen.

Ihm wird neben dem politischen, ein zerebraler, ein naturgeschichtlicher, ein körperlicher Blickwinkel bescheinigt. Zumindest versuchen Rezensenten und Kritiker ihm und seinen Gedichten mit diesen Zuschreibungen gerecht zu werden. Ungewöhnliche Metaphern sind sein Metier. Versierten Lesern entgeht dabei nicht, daß Grünbein sowohl Metrik als auch Rhythmik beherrscht. Alles in allem wird er seit seinem ersten Gedichtband Grauzone morgens (1988) als neues Genie einer neuen Lyrikergeneration gehandelt. Seit Oktober 1995 ist er jüngstes Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und erhielt - das eine geht mit dem anderen einher - den Georg-Büchner-Preis. Seine Rede anläßlich des Preises war eine Laudatio auf Georg Büchner und im besonderen dessen erste Probevorlesung in Zürich „Über Schädelnerven“. Mit Absicht und Hinblick auf die Verwandtschaft der Themen und die Verwendung eines anatomischen Vokabulars, hat sich Grünbein diesen Text Büchners ausgesucht. Wer die Vorlesung kennt, weiß um den Abgrund, in dem die Körper verschwinden, weiß um das, was Büchner selbst den philosophischen Standpunkt nennt. „... und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.“ Büchner denkt den Körper vom Nerv her, Physiomotorik schlägt sich sprachlich nieder. Ein Theater der Anatomie.

Liest man Gedichte Grünbeins, erscheint einer wie Büchner, wie ein naher Bruder im Geiste. An Zeitschwellen stehend, war für den einen wie für den anderen das gleiche von besonderer Wichtigkeit: Das Individuum hört auf, als Ganzes wahrnehmbar zu sein. Bei Büchner sind es die Naturwissenschaften, die gesellschaftlichen Umstände und nicht zuletzt die Politik, die aus einem teleologischen und theologischen ganzheitlichen Menschen eine in Einzelteile zerlegte Person machen. „Man arbeitet heut zu Tag Alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch unserer Zeit. Mein Leib wird jetzt auch verbraucht.“ Büchner legt diese Worte Danton in den Mund - sie könnten, leicht modifiziert, auch in einem Gedicht Grünbeins stehen.

Sein Thema ist der Mensch „danach“. Er beschreibt im wahrsten Sinne des Wortes einen postmodernen Zustand des Seins. Die Menschen, die Dinge, die Welt an sich sind darin der Idee von sich selbst verlustig gegangen. Das eben Wahrgenommene ist fraktal. Schon längst in seinem Selbst zersplittert, ist der Mensch nur teilweise erfaßbar. Sich und seine Umwelt kennt er nur als Reflex. Ein Gedicht aus dem Band Falten und Fallen (1994), betitelt mit „Trigeminus“ (ein dreiästiger Gesichtsnerv), ist beispielsweise eine Erinnerungssequenz an die Kindheit und Jugend in der DDR. Es gehört in den Zyklus „Variation auf kein Thema“. Kein Thema, das ist der Alltag, sind die alltäglichen Verrichtungen und das Ich, das seine Umgebung nicht mehr als Heimat oder Heim, sondern nur als Fremde wahrnehmen kann.

„Und morgens schießt aus der Dusche ... / Wasser, was sonst? Rot und Blau / Steht auf den Hähnen für Heiß und Kalt /.“ Ein radikaler Exotismus hat das Subjekt befallen. Ewig unverständlich sind Kulturen, Sitten, Gesichter, Sprachen. Einsamkeit und Vereinzelung gehören dazu. „Unwirklich das Zimmer, allein bewohnt / ... /Lächelnd und kaum entsetzt/ Suchst du in alphabetischen Gebeten Halt.“ Auch die Liebe wird vom Persönlichen abgekoppelt. Sie ist „... ein raffinierter Schmerz, / Den nur Gymnastik stillt ... /“ Und selbst die zur Liebe gehörende Intimität ist schon längst über das Stadium Sex hinaus und damit bar jeder Lust. Der Vergleich mit gymnastischen Übungen erläutert das Niveau und den Grad der Entfremdung. Liebe ist eine Art Freizeitgestaltung und rangiert unter Hobbys.

Am deutlichsten wird die Grundaussage von Grünbeins Lyrik in einem Gedicht mit dem Titel „Aus den Romantischen Kriegen“ wiedergegeben. Ich möchte es hier stellvertretend zitieren:

Vielleicht war ja ein Äderchen geplatzt
In meinen Augen, als an diesem Morgen grau
Die Luft sich trübte. Plötzlich war der Herzschlag
Nurmehr ein Echo alles Draußen, das mich trug.
Ein Nichts an Körper und ganz allgemeiner Atem,
Gehörte ich den andern eher als mir selbst,
Erwacht zu Alltagsseligkeit. In solcher Frühe
Ein unbekanntes Tier, vergaß ich meinen Weg.

Ein Mensch und zuallererst sein Körper verliert sich schrittweise im Draußen. Spekulativ und jenseits des Psychischen ist der Auslöser. Die graue Luft wird als Auswirkung eines Körperdefekts interpretiert. Das lyrische Ich nimmt sich nicht mehr als Ganzes wahr. Es ist reduziert auf seine anatomischen Bestandteile und ihre (Fehl-)Funktionen: Äderchen, Augen, Herzschlag, Atem. Diese redundante Reflexion des Selbst führt zu Persönlichkeitsverlust. Es veräußert sich. Es gibt kein Innen und kein Außen mehr. Der Herzschlag - höchstes Symbol für das Leben - verhallt und ist nur noch eine Schallwelle, ein Reflex des Draußen. Anstatt eines inneren Halts gibt es nur Veräußerung, die im Gegenzug zum lyrischen Ich in den anderen manifest wird. Die Folgen der Veräußerung des Geistes im Speziellen und des bereits fragmentierten Menschen im Allgemeinen führen zu einem evolutionären Rückschritt. Er wird zum Tier, das zudem seine Instinkte verloren hat. Warum sonst würde es seinen Weg vergessen? Ganz ent- und veräußert verliert sich dieses lyrische Ich in der Orientierungslosikgeit, die hier den Namen „Alltagsseligkeit“ trägt. „Aus den Romantischen Kriegen“ ist das letzte Gedicht in einem Zyklus, der mit „Mensch ohne Großhirn“ überschrieben ist. Ohne Großhirn ist der Mensch kein Mensch mehr, sondern auf das rein Vegetative beschränkt.

Grünbein stellt den Menschen in eine entmythologisierte Alltäglichkeit. Er steht am Ende der Geschichte, befangen in der Wiederholung des gleichen und ins Lyrische zersplittert. Er ist sich selbst Objekt ohne Selbst geworden. Das Danach, das in Grünbeins Gedichten beschrieben wird, ist ein Zustand der Künstlichkeit, in dem Emotion und Kommunikation nicht mehr bis zum anderen durchdringen, sondern das lyrische Ich selbstreferentiell umkreisen. Der Körper, einst Metapher für die Seele und später für den Sex, steht für gar nichts mehr. Der Mensch ist aus allem befreit und damit eine leere Hülle, eine Projektionsfläche. Ohne moralischen Anspruch schreibt Grünbein Zustandsbeschreibungen der Gesellschaft, wie er sie sieht. Sie sind Reflex einer Umwelt, die tatsächlich den Status der Moderne längst eingebüßt hat. Sie gehen über diese hinaus, sind in Sprache und Form jenseits dieser Ästhetik und vermelden nichts mehr und nichts weniger als den desolaten Zustand, in dem sich der einzelne und die Gesellschaft momentan befinden.

Grünbein erinnert mich ein wenig an den Narren King Lears, der mehr als die Wahrheit sah und sagte, dem der König jedoch keinen Glauben schenken wollte.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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